Vöhl-Marienhagen – Fast eine halbe Million Menschen jüdischer Herkunft lebten um 1933 in Deutschland. Sie wurden entrechtet, vertrieben, deportiert und ermordet. Ihre Habe wurde vom nationalsozialistischen Staat „verwertet“ – zu Geld gemacht. Wie es Rickchen Katzenstein aus Vöhl erging, ist noch dokumentiert.

Heide Müller, Susanne und Nico Sell, Elke Vogel, Karl-Heinz Stadtler sowie Dr. Heinrich Knoche haben die fast vollständig vorhandenen Archivunterlagen der Jahre 1930 bis 1945 der Gemeinde Marienhagen gesichtet und ausgewertet. Diese zeigen auf, dass Rickchen Katzenstein aus Vöhl von solcher Liquidation betroffen war. Dass die Unterlagen erhalten sind, ist für die Forschenden eine Überraschung. Normalerweise seien die Akten dieser Vorgänge alle vernichtet worden oder sie sind verschwunden.

Die Daten ermöglichen eine nahezu komplette chronologische Darstellung der zum Teil sehr komplexen Ereignisse. Der Grundstücksverkauf in Marienhagen war ein auferlegter indirekter Zwang, beschreibt Dr. Heinrich Knoche.

Das systematische Ineinandergreifen von Behörden, von Finanzämtern, Landeskulturabteilungen, Rechtsanwälten, Notaren, Finanzinstituten, Forstbehörden, Privatpersonen, Bürgermeistern und Gemeinderäten zur damaligen Zeit zeigt die gemeinsame Vorgehensweise auf, deren Folgen zum Teil bis in die gegenwärtige Zeit hineinreichen. So kaufte 1938 die Gemeinde von der Jüdin Friederike, genannt Rickchen, Katzenstein ein 0,54 Hektar großes Grundstück für umgerechnet 50 Euro, das zunächst mit der Forstbehörde gegen Wald getauscht wurde und letztlich an einen Bauern gegen ein anderes landwirtschaftliches Grundstück weiter veräußert wurde.

Rickchen Katzenstein (1870-1942) hat den Verkaufserlös nie erhalten. Sie wurde 1942 in Theresienstadt ermordet. Erst eine Erbengemeinschaft von ihr erhielt in einem Vergleichsurteil eines Landgerichtes im Jahr 1951 umgerechnet 1200 Euro als Wert für das Grundstück als Regress zugesprochen.

Aber auch Häuser, Wohnungen, Hausrat, Möbel und Kleidung, Fahrzeuge, Schmuck oder Tiere fielen an den nationalsozialistischen Staat, der sie verwertete und die Erlöse den Staatsfinanzen zuführte. Die Versteigerungen, die die Finanzbehörden zu diesem Zweck durchführen ließen, fanden in aller Öffentlichkeit statt – in Gaststätten, in Turnhallen und auf offener Straße. Zu Beginn der 1940er Jahre waren diese Versteigerungen fast alltägliche Ereignisse. Die Bevölkerung nahm regen Anteil und sah die Gelegenheit für „Schnäppchenkäufe“.

Oft wurden diese Auktionen aber auch direkt in der Wohnung des früheren Besitzers oder vor dem Haus durchgeführt. In beiden Fällen wussten die Käuferinnen und Käufer, woher die Tischdecke, der Anzug oder das Nachttischchen stammten, das sie erwarben.

So gelangten ungezählte Möbel, Geschirrteile, Kleidungs- und Wäschestücke, aber auch Kunstgegenstände in die deutschen Haushalte. Die Erlöse erhielten nicht die ehemaligen Besitzerinnen und Besitzer, sondern die Staatskasse.

Bis heute sind von diesen Einrichtungs- und Alltagsgegenständen vermutlich zahllose in privatem Besitz, vielleicht in Gebrauch oder verstaut und vergraben unter den Besitztümern von zwei oder drei Generationen auf Dachböden und in Hauskellern. Bei Gelegenheit werden sie durch die Aufmerksamkeit interessierter Bürger oder Bürgerinnen entdeckt – und bestenfalls zurückgeführt.  red