Donnerstag, 15. September 2022, Waldeckische Landeszeitung / Guten Morgen, Waldeck!
Poesiealbum einer Jüdin
Mehr als 140 Jahre altes Buch an Synagoge in Vöhl übergeben
VON STEFANIE RÖSNER
Korbach/Vöhl – Der hübsche violette Einband mit dem eingeprägten Wort „Album“, umrahmt von Mustern, die eine feine Struktur ergeben, weckt sofort die Neugierde. Der Geruch von altem Papier lässt das Alter nur erahnen. Dünne, vergilbte Seiten mit persönlichen Versen in feiner Sütterlin-Handschrift, und einzelne Blätter, die drohen aus der Bindung zu fallen: Das Poesiealbum von Selma Rothschild hat mehr als ein Jahrhundert überdauert.
„Für mich ist es eine Sensation“, sagt Karl-Heinz Stadtler. Der Vorsitzende des Förderkreises Synagoge in Vöhl beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Geschichten der Juden, die in Vöhl lebten, bevor sie von den Nazis deportiert wurden. Darunter war auch Selma Rothschild, die als eine von „Vöhls letzten Juden“ im Jahr 1942 in einem Vernichtungslager umgebracht wurde.
Umso faszinierender ist das Geschenk an den Förderkreis, den Renate Mahaj aus Korbach möglich gemacht hat. Die 66-jährige Rentnerin interessiert sich für alles, was in Sütterlin verfasst ist. „Es macht mir Spaß, das zu übersetzen.“ So stöberte sie wieder einmal im Lager eines Unternehmens, das bei Haushaltsauflösungen entrümpelt. Und sie stieß auf das alte Album, dessen 48 Einträge sie in Vereinfachte Ausgangsschrift übertrug.
„Auf dem Pfad, der dich durchs Leben leitet, sieh o Freundin viele Rosen blühen. Und der Bach des Erdenlebens geleite silbern dir ins Meer der Zeit dahin.“ Poetische Sprüche wie diese enden mit persönlichen Worten: „Zur bleibenden Erinnerung an unsere Freundschaft schrieb dieses deine Rosa Kaiser“. Vöhl, den 27. Dezember 1880. „Ich wurde ganz traurig“, sagt Renate Mahaj. „Es stehen so viele liebe Wünsche darin. Doch sie haben nichts genützt. Die Geschichte von Selma Rothschild hat so ein schlimmes Ende genommen.“
Die Jüdin war am 10. Februar 1867 in Vöhl geboren worden. Mit 13 Jahren hatte sie ihre ersten Freundinnen und Verwandte in ihr Poesiealbum eintragen lassen. Insgesamt finden sich 48 Einträge aus den Jahren zwischen 1880 bis 1901. Auch Erinnerungen von Hotelbesuchern sind darin zu lesen. Denn ihr Vater Moritz Rothschild betrieb das angesehene Hotel „Prinz Wilhelm“ in Vöhl.
In Schönschrift verewigten sich Wegbegleiterinnen aus Vöhl, Gäste aus der Ferne, jüdische und christliche Familienangehörige und Bekannte, die Selma Rothschild Glück und Gottes Segen wünschten. Einzelne Sinnsprüche erscheinen im Nachhinein makaber: „Lerne leiden ohne zu klagen.“
„Das Büchlein muss dahin, wo es hergekommen ist“, sagte sich Renate Mahaj. Daher hat sie es der Synagoge geschenkt. Aus welchem Haushalt das Buch stammt, konnten Renate Mahaj und Karl-Heinz Stadtler bislang nicht erfahren, wobei sie es zu gerne wüssten.
Fotos der Originalseiten und die Transkriptionen sind nun im Museum der Synagoge sowie auf der Internetseite synagoge-voehl.de (Rubrik „Vöhler Juden“ - „Die Synagoge in Vöhl“) zu sehen. Elizabeth Foote aus Salt Lake City in den USA und Karl-Heinz Stadtler haben zudem Informationen über die Personen, die sich im Poesiealbum eintrugen, zusammengestellt.
Das Poesiealbum soll restauriert werden, was laut Karl-Heinz Stadtler mehrere Hundert Euro kosten wird. Spenden an den Förderkreis „Synagoge in Vöhl“: Sparkasse Waldeck-Frankenberg; BIC: HELADEF1KOR; IBAN: DE 5652 3500 0500 0700 7222.