Freitag, 05. Mai 2023, Waldeckische Landeszeitung / Landkreis
„Sie haben sich der Unmenschlichkeit angepasst“
In der ehemaligen Synagoge Vöhl berichtet Leon Weintraub auch über die Arbeit der Kapos
Einen Tag nach dem Besuch bei den Schülerinnen und Schülern in Korbach steht Leon Weintraub abends am Pult in der ehemaligen Synagoge Vöhl. Der gleiche Anlass, die gleiche Geschichte, der gleiche Mensch. Und doch ist es anders. Er weiß, er trifft auf ein erfahrenes Publikum. Es gibt also Raum – sogar für kleine Scherze, nicht jedes Wort muss abgewogen werden. „Ich bin von Stockholm in zwei kleine nordhessische Orte gefahren, von denen ich vorher noch nie gehört hatte. Es ist eindrucksvoll. Ich habe mit vielen wunderbaren Menschen gesprochen und stehe jetzt zum ersten Mal in einer Synagoge in einem kleinen Fachwerkhaus. Ich fühle mich sehr wohl“, sagt der 97-Jährige.
Wenn er hier von der Wäscherei der Mutter erzählt, dann erinnern sich viele im Saal, daran, wie es war, als die Mutter oder Großmutter im heißen Wasser auf dem harten Waschbrett die Wäsche rieb. Aus alten Erzählungen in der Familie ahnen sie, was es heißen kann, von September 1939 bis April 1945 Hunger zu haben. Einen Hunger, der unablässig schmerzt. Sie sind entsetzt, als sie von der Arbeit der Kapos, der Funktionshäftlinge, erfahren.
„Als wir in Auschwitz ankamen, hat mir ein Kapo meine Briefmarkensammlung abgenommen“, berichtet Leon Weintraub „Als ich sie wieder haben wollte, sagte er nur: Die brauchst Du nicht mehr. Du bist nicht hier, um zu leben. Immer wieder habe ich gesehen und erlebt, wie diese Menschen sich der Unmenschlichkeit ihrer Arbeitgeber anpassten.“ Er spüre bis heute, dass sein Körper sich verändere, wenn er daran denke. Es sei noch einmal schlimmer, von den eigenen Leuten verfolgt und gedemütigt zu werden. „Ich hatte nie eine große Bindung an die jüdische Religion, aber hätte ich sie gehabt, in Auschwitz hätte ich sie verloren.“
„Leon Weintraub ist einer der letzten Menschen, der aus eigener Erfahrung von diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte berichten kann“, sagt Valerie van der Kraan aus Frankenau. Sie ist beeindruckt. „Es berührt sehr, wie er das Grauen auf die kleinen Momente zurückholt. Wie er sich selbst zurücknimmt, keine Schuld zuweist. Er hat viele Jahre seines Lebens verloren und sich doch sein Leben zurückgeholt und ein neues aufgebaut.“
Astrid Sommer und ihr Mann hatten einen ganz besonderen Grund, aus Essen zu diesem Vortrag anzureisen. „Der Vater meiner Tante ist deportiert und ermordet worden. Sie haben hier in Vöhl in der Nachbarschaft der Synagoge gelebt“, erzählen sie. Mit Blick auf den Vortrag Leon Weintraubs betonen sie: „Die ruhige und sachliche Schilderung seines Lebens hat uns persönlich viel erklärt. Frei von Anklagen erzählt er, wie es trotz allem weiterging. Er hatte wohl immer die Hoffnung, weitergehen zu können. Und wie er sein Leben gestaltet hat, ist einfach großartig. Genauso großartig ist es, dass es Karl-Heinz Stadtler gelungen ist, ihn hierher zu holen in die alte Synagoge.“
Er habe, so betont es Leon Weintraub, die Ereignisse inzwischen verarbeitet und rationalisieren können. Es gäbe kaum ein Ereignis in der Weltgeschichte, das so gründlich in Wort und Bild von den Tätern, den Überlebenden oder Wissenschaftlern dokumentiert werde. Jedes Mal aber falle nach einem Vortrag, wenn er seine Pflicht der Erinnerungsarbeit erfüllt habe, gerade auch in Schulen, eine Last von seinen Schultern.
Die Zuhörer in der voll besetzten Synagoge erinnert er daran, nicht zu vergessen. „Es waren nicht nur Einzelne. Es waren Deutsche. Wir müssen gemeinsam die Erinnerung wachhalten.“ Nach einem langen Applaus im Stehen beantwortet Leon Weintraub noch viele Fragen und signiert Bücher. bl