Donnerstag, 09. November 2023, Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Ihr ersehnter Zufluchtsort hieß Palästina
Nach der Pogromnacht vor 85 Jahren endete das jüdische Kibbuz-Lager in Grüsen
VON KARL-HERMANN VÖLKER
Grüsen – Einen Tag, nachdem heute vor 85 Jahren in der Pogromnacht auch im Waldecker und Frankenberger Land Synagogen verwüstet, Türen eingetreten, jüdische Bürger aus ihren Häusern gezerrt und zur Deportation in das KZ Buchenwald verschleppt wurden, war in Grüsen am Abend des 10. November 1933 auch das Gasthaus von Jacob Marx Ziel von NS-Rassenhass und Gewalt. SA- und SS-Angehörige aus Haina und Gemünden stürmten das Anwesen, und obwohl die dort lebenden jüdischen Praktikanten im Schutz der Dunkelheit zunächst ins Feld fliehen konnten, wurden auch sie am nächsten Tag gefasst und ins Lager deportiert.
Sie lernten Landwirtschaft: Die jungen Praktikanten nutzten dazu Land, Ställe, Wohnraum und Geräte der jüdischen Landwirte in Grüsen.
Der Saalbau des Gasthauses in Grüsen hat in Zeiten von zunehmendem Terror im NS-Regime ab 1934 einem Überlebensprojekt gedient. Hier wohnten und arbeiteten in einer „Hachschara“ in verschiedenen landwirtschaftlichen Lehrgängen aus dem gesamten Deutschen Reich etwa 140 jüdische junge Leute zusammen, die sich auf eine Auswanderung vorbereiteten und deren Ausbildungszeugnis als Einreisezertifikat diente.
Ihr ersehnter Rettungsort hieß Palästina. Ein ähnliches Lager bestand, schon eher von ständigen SS-Übergriffen aus Arolsen bedroht, bis 1936 auch in Volkmarsen-Külte.
Palästina war unter britischem Mandat schon lange Zufluchtsort für verfolgte Juden, 1945 bereits mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 30 Prozent. 1947 teilten die Vereinten Nationen das Land auf. 1,2 Millionen Palästinenser erhielten rund 43 Prozent, 600 000 Juden 56 Prozent. Damit war der Urkonflikt als Auslöser für Kriege, Krisen, Vertreibungen und versuchte Friedensprozesse zwischen dem 1948 gegründeten Staat Israel und Palästina bis zur aktuellen Katastrophe gelegt.
In Grüsen mit etwa 300 Einwohnern lebten in den 1930er-Jahren sechs jüdische Familien. Gastwirt Jacob Marx (1869-1940) und einige von ihnen verpachteten der Reichsvertretung der Juden in Deutschland für die „Kibbuz Hag Shamash“ genannte Ausbildungsstätte Land, Wohnräume und Viehställe, die von den Praktikanten genutzt wurden. Zeitzeugen berichteten später, dass sie ein gutes Verhältnis zur Grüsener Bevölkerung hatten und bei Dreschmaschine, Landarbeit oder Holzschlagen im Winter mithalfen.
Heinz Brandt (1912-1996), früherer Vorsitzender des Frankenberger Geschichtsvereins, forschte zur Hachschara Grüsen, sprach mit Überlebenden und fand im Standesamt Haina heraus, dass es während der Kibbuzzeit elf Eheschließungen gab, Scheinehen oder auch lebenslang geschlossene, weil zwei verheiratete Personen mit einem gemeinsamen Zertifikat in Palästina einwandern durften. Brandt erhielt von ihnen auch eine ganze Reihe von Fotos aus dem Grüsener Kibbuz-Milieu.
Gastwirtschaft Marx in Grüsen: Im Saalbau auf den Säulen mit Nebenräumen kamen die Kibbuzbewohner zwischen 1934 und 1938 unter.
Mit dem Pogrom im November 1938 und dem Vandalismus der braunen Horden aus der Bunstruth endete auch das Rettungsprojekt Hachschara Grüsen. Gendarm Haan meldete dem Landrat, dass „im Zionistenlager etwa 20-25 Zentner Alteisen angefallen“ seien – die zerschlagenen Maschinen und Ackergeräte. Die verschleppten Kibbuz-Praktikanten kehrten relativ schnell aus dem KZ Buchenwald zurück. Bei Schreinermeister Parthesius zimmerten sie die Transportkisten für ihre wenigen Habseligkeiten.
Info: In Waldeck-Frankenberg wird heute an mehreren Orten mit Gedenkfeiern an die Pogromnacht und die Opfer des Holocaust erinnert. In Vöhl findet nach dem Friedensgebet ab 19.30 Uhr in der Kirche eine Gedenkfeier ab 20 Uhr in der ehemaligen Synagoge statt, bei der Propst Dr. Volker Manthey sprechen wird.