Montag, 21. Oktober 2024,
Waldeckische Landeszeitung / Lokales
Enkel auf Spuren ihrer Vorfahren
Familie Chajuss aus Israel besucht Synagoge in Vöhl
Auf den Spuren ihrer Vorfahren: Vorne steht Talma Chajuss, dahinter ihre Söhne. Das hinten stehende Ehepaar gehört nicht zur Familie. Rechts: Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises. © Foto: pr Vöhl
– Karl-Heinz Stadtler, Vorsitzender des Förderkreises für die Vöhler Synagoge, war bass erstaunt, als er eine E-Mail von einem ihm zunächst unbekannten Ron Chayut erhielt, der sich als Nachfahre von Maximilian Hirsch vorstellte und am nächsten Tag mit weiteren Personen die Synagoge besuchen wollte. In der E-Mail nannte der Absender auch den Namen seiner Mutter Talma, und da ahnte Stadtler, mit wem er es zu tun hatte. Natürlich antwortete er sofort, dass er die Gäste am nächsten Nachmittag gerne begrüßen würde. Die Begrüßung fiel sehr herzlich aus, vor allem auch, weil die erwähnte Talma Chajuss Stadtler als alte Bekannte sofort umarmte. Und sie stellte ihm alle ihre vier Söhne vor: Ron, Amir, Schai und Ori, natürlich alle inzwischen Männer in den mittleren Jahren, die sie auf dem Trip in die Heimat ihrer Vorfahren begleiteten. Rechtzeitig nach Palästina emigriert Talma ist die Enkelin des Sachsenhäuser Juden Maximilian Hirsch und dessen aus Korbach stammender Ehefrau Emma Katz. Deren ältester Sohn Bernhard war 1937 – also noch rechtzeitig – nach Palästina emigriert, hatte dort geheiratet und zwei Töchter bekommen; Talma ist die jüngere der beiden. Während Großvater Maximilian 1934 eines normalen Todes gestorben war, wurde Oma Emma am 1. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und ermordet. Zusammen mit ihrer älteren Schwester Hermine Rothschild, und das erklärt die Beziehung zu Vöhl: Hermine war die Ehefrau des Vöhler Juden Alfred Rothschild und Mutter von Richard, der wie sein Cousin Bernhard nach Palästina emigriert war. Richard – inzwischen 95-jährig – hatte mit seiner Frau Gerda am Treffen ehemaliger Vöhler Juden im September 2000 in Vöhl teilgenommen, und Stadtler hatte ihn zusammen mit Kurt-Willi Julius fünf Jahre später zu seinem 100. Geburtstag in Israel besucht.
Seit 2005 Kontakt zur Familie Chajuss
Damals ist der Kontakt zu Talma Chajuss entstanden, die dann auch bei der Übersetzung hebräischer Inschriften auf dem Vöhler jüdischen Friedhof geholfen hatte. Nach Richard Rothschilds Tod hatte sie mit dem Nachlass zu tun und dafür gesorgt, dass – entsprechend dem Willen des Verstorbenen – zwanzig seiner Gemälde nach Vöhl geschickt und dem Förderkreis übereignet wurden, der sie hin und wieder in der Synagoge ausstellt.
Selma Rothschilds Poesiealbum
Karl-Heinz Stadtler führte die Gäste, denen sich weitere Interessierte anschlossen, über den Gedenkhof mit dem Mahnmal und den Stelen in den Flur des Gebäudes, wo sie auf der Tafel mit den Vöhler Holocaustopfern nach ihren Verwandten suchten. Sie bewunderten den Sakralraum und die Judaica im kleinen Museum im Obergeschoss der Synagoge. Ihr besonderes Interesse galt dem Poesiealbum der im Oktober 1942 in Treblinka vergasten Selma Rotschild, einer Tante Richards, das die Korbacherin Renate Mahaj 2022 im Rahmen einer Haushaltsauflösung gefunden und dem Förderkreis geschenkt hatte.
Die Familie Chajuss wollte dann auch noch die Rothschild-Häuser sehen. Also führte Stadtler sie zu dem früheren Gasthaus Prinz Wilhelm, in dem Richard Rothschild geboren worden war, und zu dem von Ascher Rothschild erbauten Haus in der Arolser Straße, in dem bis 1925 die jüdische Schule untergebracht war. Auf dem jüdischen Friedhof besuchten die Gäste die Grabsteine von Karoline und Moritz Rothschild sowie den von Sprinza, der ersten Ehefrau des Kaufmanns Ascher Rothschild. Ähnlich herzlich wie die Begrüßung vor der Vöhler Synagoge fiel nun auch der Abschied zwischen Karl-Heinz Stadtler und der Familie Chajuss aus. Sie versprachen sich, weiter in Kontakt zu bleiben. Am nächsten Tag wollten sie mit Dr. Marion Lilienthal den jüdischen Friedhof in Korbach besuchen. RED
Leben mit neuer Generation teilen
Der Besuch der Familie Chajuss in Vöhl bestätigt die Erfahrung der Arolsen Archives, die aber auch in Korbach, Volkmarsen oder Bad Wildungen gemacht wurde: Die Generation der Enkel und Urenkel der früher in unserer Region lebenden jüdischen Familien reisen dorthin, wo die Wurzeln ihrer Familie liegen. Sie wollen wissen, wo und wie ihre Ahnen gelebt haben und wollen vielleicht auch die Nachfahren derer kennenlernen, die für die Gräuel der 1930er und 1940er Jahre verantwortlich waren. Und in aller Regel nehmen sie wahr, was Carol Baird, Nachfahrin der Vöhler Familie Frankenthal, anlässlich eines Besuchs so formulierte: „We came to share our lives with a new generation of Germans – a different Germany.“ (Wir kamen, um unsere Leben zu teilen mit einer neuen Generation von Deutschen – einem anderen Deutschland.) RED