Grü­sen – Ei­nen Tag, nach­dem heu­te vor 85 Jah­ren in der Po­grom­nacht auch im Wal­de­cker und Fran­ken­ber­ger Land Syn­ago­gen ver­wüs­tet, Tü­ren ein­ge­tre­ten, jü­di­sche Bür­ger aus ih­ren Häu­sern ge­zerrt und zur De­por­ta­ti­on in das KZ Bu­chen­wald ver­schleppt wur­den, war in Grü­sen am Abend des 10. No­vem­ber 1933 auch das Gast­haus von Ja­cob Marx Ziel von NS-Ras­sen­hass und Ge­walt. SA- und SS-An­ge­hö­ri­ge aus Hai­na und Ge­mün­den stürm­ten das An­we­sen, und ob­wohl die dort le­ben­den jü­di­schen Prak­ti­kan­ten im Schutz der Dun­kel­heit zu­nächst ins Feld flie­hen konn­ten, wur­den auch sie am nächs­ten Tag ge­fasst und ins La­ger de­por­tiert.

Sie lernten Landwirtschaft: Die jungen Praktikanten nutzten dazu  Land, Ställe, Wohnraum und Geräte der jüdischen Landwirte in Grüsen.

Der Saal­bau des Gast­hau­ses in Grü­sen hat in Zei­ten von zu­neh­men­dem Ter­ror im NS-Re­gime ab 1934 ei­nem Über­le­bens­pro­jekt ge­dient. Hier wohn­ten und ar­bei­te­ten in ei­ner „Hachs­cha­ra“ in ver­schie­de­nen land­wirt­schaft­li­chen Lehr­gän­gen aus dem ge­sam­ten Deut­schen Reich et­wa 140 jü­di­sche jun­ge Leu­te zu­sam­men, die sich auf ei­ne Aus­wan­de­rung vor­be­rei­te­ten und de­ren Aus­bil­dungs­zeug­nis als Ein­rei­se­zer­ti­fi­kat dien­te.

Ihr er­sehn­ter Ret­tungs­ort hieß Pa­läs­ti­na. Ein ähn­li­ches La­ger be­stand, schon eher von stän­di­gen SS-Über­grif­fen aus Arol­sen be­droht, bis 1936 auch in Volk­mar­sen-Kül­te.

Pa­läs­ti­na war un­ter bri­ti­schem Man­dat schon lan­ge Zu­fluchts­ort für ver­folg­te Ju­den, 1945 be­reits mit ei­nem jü­di­schen Be­völ­ke­rungs­an­teil von 30 Pro­zent. 1947 teil­ten die Ver­ein­ten Na­tio­nen das Land auf. 1,2 Mil­lio­nen Pa­läs­ti­nen­ser er­hiel­ten rund 43 Pro­zent, 600 000 Ju­den 56 Pro­zent. Da­mit war der Ur­kon­flikt als Aus­lö­ser für Krie­ge, Kri­sen, Ver­trei­bun­gen und ver­such­te Frie­dens­pro­zes­se zwi­schen dem 1948 ge­grün­de­ten Staat Is­ra­el und Pa­läs­ti­na bis zur ak­tu­el­len Ka­ta­stro­phe ge­legt.

In Grü­sen mit et­wa 300 Ein­woh­nern leb­ten in den 1930er-Jah­ren sechs jü­di­sche Fa­mi­li­en. Gast­wirt Ja­cob Marx (1869-1940) und ei­ni­ge von ih­nen ver­pach­te­ten der Reichs­ver­tre­tung der Ju­den in Deutsch­land für die „Kib­buz Hag Shamash“ ge­nann­te Aus­bil­dungs­stät­te Land, Wohn­räu­me und Vieh­stäl­le, die von den Prak­ti­kan­ten ge­nutzt wur­den. Zeit­zeu­gen be­rich­te­ten spä­ter, dass sie ein gu­tes Ver­hält­nis zur Grü­se­ner Be­völ­ke­rung hat­ten und bei Dresch­ma­schi­ne, Land­ar­beit oder Holz­schla­gen im Win­ter mit­hal­fen.

Heinz Brandt (1912-1996), frü­he­rer Vor­sit­zen­der des Fran­ken­ber­ger Ge­schichts­ver­eins, forsch­te zur Hachs­cha­ra Grü­sen, sprach mit Über­le­ben­den und fand im Stan­des­amt Hai­na her­aus, dass es wäh­rend der Kib­buz­zeit elf Ehe­schlie­ßun­gen gab, Schein­ehen oder auch le­bens­lang ge­schlos­se­ne, weil zwei ver­hei­ra­te­te Per­so­nen mit ei­nem ge­mein­sa­men Zer­ti­fi­kat in Pa­läs­ti­na ein­wan­dern durf­ten. Brandt er­hielt von ih­nen auch ei­ne gan­ze Rei­he von Fo­tos aus dem Grü­se­ner Kib­buz-Mi­lieu.

Gastwirtschaft Marx in Grüsen: Im Saalbau auf den Säulen mit Nebenräumen kamen die Kibbuzbewohner zwischen 1934 und 1938 unter.

Mit dem Po­grom im No­vem­ber 1938 und dem Van­da­lis­mus der brau­nen Hor­den aus der Bun­st­ruth en­de­te auch das Ret­tungs­pro­jekt Hachs­cha­ra Grü­sen. Gen­darm Haan mel­de­te dem Land­rat, dass „im Zio­nis­ten­la­ger et­wa 20-25 Zent­ner Alt­ei­sen an­ge­fal­len“ sei­en – die zer­schla­ge­nen Ma­schi­nen und Acker­ge­rä­te. Die ver­schlepp­ten Kib­buz-Prak­ti­kan­ten kehr­ten re­la­tiv schnell aus dem KZ Bu­chen­wald zu­rück. Bei Schrei­ner­meis­ter Par­the­si­us zim­mer­ten sie die Trans­port­kis­ten für ih­re we­ni­gen Hab­se­lig­kei­ten.

In­fo: In Wal­deck-Fran­ken­berg wird heu­te an meh­re­ren Or­ten mit Ge­denk­fei­ern an die Po­grom­nacht und die Op­fer des Ho­lo­caust er­in­nert. In Vöhl fin­det nach dem Frie­dens­ge­bet ab 19.30 Uhr in der Kir­che ei­ne Ge­denk­fei­er ab 20 Uhr in der ehe­ma­li­gen Syn­ago­ge statt, bei der Propst Dr. Vol­ker Man­they spre­chen wird.