Vöhl – Zum 25-jährigen Bestehen des Förderkreises Synagoge Vöhl sprechen wir mit dem Vorsitzenden Karl-Heinz Stadtler (72 Jahre).

Zum Jubiläumswochenende 12. bis 14. Juli werden 15 Nachfahren von Juden, die einst in Vöhl lebten, erwartet. Sie stehen persönlich mit diesen Menschen in Kontakt, die vorwiegend aus den USA anreisen, aber auch aus Israel und Hamburg. Was bedeutet Ihnen das, dass sie diese weiten Reisen auf sich nehmen?

Ich bin begeistert und freue mich sehr. Ich habe alle schon vor vielen Jahren kennengelernt. Sie sind inzwischen zu Freunden geworden, zu Freunden nicht nur von meiner Frau und mir, sondern auch des Förderkreises insgesamt.

Einer ist Michael Dimor, der zum Fest erwartet wird. Welchen Bezug hat er zu Vöhl?

Michael Dimor ist der Enkelsohn des Vöhler Juden Moritz Mildenberg und seiner Frau Helene. Er kommt jetzt als 87-Jähriger nach Vöhl. Seine Großmutter war mit einer Tochter zu Beginn der NS-Herrschaft in die Niederlande emigriert. 1938 besuchte sie ihre Tochter Else, die Mutter Michaels, die nach Palästina emigriert war. Es ist kaum zu fassen. Anschließend reiste die Großmutter zurück in die Niederlande und wurde von dort mit ihrer Tochter, deren Mann und kleinem Sohn nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Es ist sicher immer ein emotionales Erlebnis, wenn solch ein Kontakt zustandekommt?

Ja, das ist es. Ich kann mich sehr gut an den ersten Besuch von Michael Dimor und seiner Frau in Vöhl erinnern, als sie in Sachsenhausen auf dem Friedhof standen, weil Michaels Großvater dort 1945 Sachsenhausen gestorben ist. Wir hatten auch ein großes Treffen mit alten Leuten in Sachsenhausen organisiert, die sich noch an seinen Großvater erinnern konnten. Wir sind mit ihm auch zum Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen – heute Arolsen Archives – gefahren. Und er konnte dort die Dokumente von seinen Verwandten sehen, die Opfer des Holocausts geworden sind. Das war unheimlich bewegend.

Mit welcher Vertrautheit begegnen Ihnen die Menschen, die schlechte Erfahrungen mit dem Deutschen Reich gemacht haben?

Im September 2000 waren zwei Ehepaare unter den Besuchern in Vöhl. Einer der jeweiligen Partner hatte im Haus neben der Synagoge gewohnt. Sie wollten nicht nach Vöhl kommen – auf keinen Fall noch einmal zurück nach Deutschland. Aber wir hatten einen sehr regen E-Mail-Austausch, in dem ich sie davon überzeugen konnte, dass Deutschland heute anders ist, dass wir anders sind. Und schließlich sind sie gekommen. Wir haben uns am Flughafen in die Arme genommen.

Ist Deutschland heute wirklich anders?

Ja! Trotz der aktuellen Diskussion um Antisemitismus. Das, was unter dem Begriff läuft, ist oft Kritik an der gegenwärtigen Politik Israels. Da geht es zum einen um die Innenpolitik, bei der man den Eindruck hat, dass sich Israel zum Beispiel in einer Weise entwickelt, die nicht mehr unbedingt als demokratisch bezeichnet werden kann, weil zum Beispiel die Rechte der Justiz beschränkt werden sollen. Das ist ein Problem, über das auch in Israel diskutiert wird. Und wer da die israelische Regierung kritisiert, ist nicht Antisemit. Ähnliches gilt in Bezug auf den Gazakrieg. Selbstverständlich ist es in Ordnung, wenn sich Israel gegen einen solchen Angriff wie dem furchtbaren Terroranschlag der Hamas im Oktober 2023 wehrt. Aber es muss die Frage erlaubt sein, ob die Art und Weise, wie das geschieht, gerechtfertigt und notwendig ist und ob es nicht andere Wege gegeben hätte, das Ziel – die Zerschlagung der Hamas – zu erreichen.

Die antisemitisch motivierten Gewalttaten in Deutschland sind mehr geworden.

Ich möchte Antisemitismus auch nicht relativieren, sondern deutlich machen, dass nicht alles, was Antisemitismus genannt wird, Antisemitismus ist. Wir haben in der Synagoge bereits drei Veranstaltungen über die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Palästinensern gehabt. Damit müssen wir uns thematisch befassen.

Welchen Auftrag hat der Förderkreis aufgrund der aktuellen Entwicklungen? Welchen Stellenwert haben die Erinnerung an die Vergangenheit einerseits und Debatten über die Gegenwart andererseits?

Vor allem in Bezug auf die Gegenwart müssen wir uns fragen, warum es in Staaten mit gemischten Bevölkerungsgruppen immer wieder zu Problemen kommt. In Deutschland hat es lange Zeit ein gutes Zusammenleben zwischen Juden und Christen gegeben. Dann hat es aber auch immer wieder Rückschläge gegeben. Es gilt darüber nachzudenken, in welchen sozialen und wirtschaftlichen Situationen es zu Problemen zwischen Mehrheiten und Minderheiten kommt.

Sie persönlich investieren viel in die Arbeit als Vorsitzender des Förderkreises. Was treibt Sie an?

Das Wichtigste ist für mich das Verantwortungsgefühl in Bezug auf deutsche Geschichte und auch in Bezug auf das Dorf Vöhl. Ich glaube, es ist wichtig, diese Arbeit hier zu machen. Ich merke ja auch die unheimlich große Resonanz.

 

Über die Gründung des Förderkreises Synagoge Vöhl, über dessen Engagement im Bereich Jugendbildung und über weitere Pläne des Vereins spricht Stadtler im Podcast „Erzählmodus“: abrufbar über den QR-Code sowie online auf Youtube und Spotify.