Leben mit Widersprüchen
 
 
„Unter den Wolken“: Dieser Song der „Toten Hosen“ geriet zum rockigsten Moment des alternativen Weihnachtsoratoriums von Paul Hoorn und Freunden in der Vöhler Synagoge. Foto: Armin Hennig
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Hennig, Armin

VON ARMIN HENNIG

Vöhl - Mit ihrem dialektischen Weihnachtskonzert „Und die Finsternis hat es nicht begriffen“ gastierten Paul Hoorn und Freunde zum zweiten Mal in der Alten Synagoge in Vöhl.

Die Neuauflage des Plädoyers für ein Leben in Vielfalt und mit den Widersprüchen dieser Welt geriet spiritueller als im Vorjahr. Im komplett abgedunkelten Raum disputierten die Stimmen von Paul Hoorn, Matthias Manz und Karolina Petrova das Für und Wider eines Weihnachtskonzerts und einer angemessenen Liedauswahl für einen alternativen Entwurf.

Dabei übernahm der Kopf der Gruppe die Rolle des Spielverderbers, der mit seiner resignierten Einstellung jeden Wunsch des Traditionalisten an der Gitarre nach wenigstens ein bisschen heile Welt zum Fest, unterläuft.

Als Stimme von oben griff Carolina Petrova mit geistreichen Gegenvorschlägen und dem Verweis auf die jiddischen Traditionen vermittelnd in den Disput ein und lieferte die Vorlage zur Eröffnung „In der Finster.“

Ein düsterer Akkordeonlauf und ein Schmerzensruf eröffneten den musikalischen Dreiklang aus jiddischer Leidenserfahrung, Nachkriegselend („Zur halben Nacht“) und christlicher Tradition („Es ist ein Ros’ entsprungen“). Die inhaltlichen und musikalischen Wechselwirkungen zwischen der zu allen Zeiten gern gesungenen Vorlage und der Neubesinnung in der Trümmerlandschaft spann den dialektischen Faden weiter. Die Verbindung von Verfolgung und Leid, Aneignung und Weiterentwicklung der Traditionen mit abschließender Rückkehr in die weihnachtliche Konvention bildete auch den folgenden Dreiklang.

„Unter dajne wajsse Schtern“ war während des Zweiten Weltkriegs im Ghetto von Wilna entstanden und gestaltete mit Hoffnung in aussichtslosen Zeiten den Widerspruch in sich. Den heiteren Kontrast zum Hunger im Ghetto bildete Paul Hoorns Vertonung des kaschubischen Weihnachtsliedes von Walter Bergengruen.

Es ist eine Parodie auf den Stolz der slawischen Pommern auf ihre deftige Küche, die einen ganz anderen Kerl aus dem Jesuskind gemacht hätte, wäre die Krippe nicht in Bethlehem, sondern in den Kaschubei gestanden. Diese extrem bodenständige kulinarische Ausrichtung wirkte zunächst als krasser Gegensatz zur barocken Dichtung Johann Francks und Johann Sebastian Bachs Vertonung von „Ihr Gestirn, ihr hohen Lüfte“, doch das Finale stellte die Verbindung her.

Die finale Auflösung der dialektischen Widersprüchlichkeiten blieb der ersten Zugabe vorbehalten. „Durch den Riss in jedem Sein, kommt erst das Licht hinein“, mit dieser Zeile aus Leonard Cohens „Hymne“ spielten Paul Hoorn und Freunde ihr letztes und überzeugendstes Plädoyer gegen geschlossene Weltbilder und für das Leben mit den eigenen Widersprüchen.

 
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