Fortsetzung
- Überraschender Fund in Volkmarsen
Das war durchaus eine Sensation, als Ernst Klein, Vorsitzender des Vereins Rückblende in Volkmarsen, berichtete, eine ungefähr 500 Jahre alte Mikwe in einem Haus im Stadtkern Volkmarsens gefunden zu haben. Den Verdacht hatte er schon lange, doch nun war es durch Grabungen und wissenschaftliche Untersuchungen belegt: In einem im 13. Jahrhundert erbauten Haus mit einem ganz besonderen Kellergewölbe wurde im 16. Jahrhundert eine Schachtmikwe eingebaut.
Eine der Gewölbesäulen
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Treppe zur Mikwe m. Ablagefach
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Schachtmikwe in Volkmarsen |
Fotos: Karl-Heinz Stadtler
Natürlich war es keine Überraschung, dass es in Volkmarsen eine Mikwe gab. In der 1827 gebauten Synagoge befand sich ein solches rituelles Tauchbad. Das Besondere war das Alter der nun gefundenen Mikwe, denn der Fund belegte, dass schon im 16. Jahrhundert Juden in der Stadt lebten.
Doch nun sei zunächst dargestellt, was es mit einer Mikwe auf sich hat.
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- Wasser reinigt
Wasser reinigt - tatsächlich und symbolisch!
Wer den ganzen Tag gearbeitet hat - beim Straßen- oder Hausbau, in Fabrik oder Werkstatt, in Küche oder Garten, im Stall oder auf dem Feld -, weiß eine feierabendliche Dusche zu schätzen. Selbst wenn man bei der Arbeit nicht schmutzig geworden ist, vielleicht nicht einmal geschwitzt hat, fühlt man sich nach Dusche oder Bad frisch und gereinigt.
Wunden werden mit Wasser gesäubert, bevor man sie behandeln kann. Operationsbesteck oder andere medizinische Geräte werden vor der Benutzung gereinigt. Die Infektionsgefahr wird durch Wasser mit entsprechenden Zusätzen gebannt.
Die Sauberkeit der Wohnung, der Kleidung, von Räumen, in denen Lebensmittel hergestellt oder verkauft werden, von Krankenhäusern sind für uns Kriterien gesunden Lebens. Und trotz aller chemischen oder biologischen Zusätze ist das wichtigste Reinigungsmittel nach wie vor das Wasser.
Wir kennen andererseits die Fernseh- oder Illustriertenbilder von Tausenden Hindus, die im braunen und schmutzigen, aber heiligen Wasser des Ganges untertauchen, um sich rituell zu waschen, denn das Bad soll auch von dem Bösen reinigen, das man getan oder erlebt hat. Dieser Ritus wurde sicherlich zu einer Zeit eingeführt, als das Wasser des Flusses noch nicht gesundheitsgefährdend war.
Holger.Ellgaard, Skondals kyrka 2005, CC BY-SA 3.0
Eine ausschließlich rituelle Reinigung stellt auch die Taufe dar: die Handvoll Wasser, mit der der Pfarrer über den Kopf des Kindes streicht, reicht auch für mehr nicht aus. Das Wasser reinigt symbolisch von den Sünden oder der Sünde und nimmt gleichzeitig auf in die religiöse Gemeinschaft. Es gibt auch christliche Gemeinschaften, bei denen die Ganzkörpertaufe üblich oder gar vorgeschrieben ist.
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- Biblische Grundlagen für die Mikweh
Auch in der jüdischen Religion ist die rituelle Reinigung mit Wasser von großer Bedeutung. Sie geht auf die Bücher Moses zurück, wo an verschiedenen Stellen der Thora die Notwendigkeit des Reinigens betont wird. Die erste Textstelle (3. Buch Moses, Kap. 14) handelt von der Reinigung Aussätziger, von denen es damals sehr viele gegeben hat. Dort heißt es in der Übersetzung Luthers:
- Der aber, der sich reinigt, soll seine Kleider waschen und alle seine Haare abscheren und sich mit Wasser abwaschen, so ist er rein. Danach gehe er ins Lager, doch soll er sieben Tage außerhalb seines Zeltes bleiben.
- Und am siebenten Tage soll er alle seine Haare abscheren auf dem Kopf, am Bart, an den Augenbrauen, dass alle Haare abgeschoren seien, und soll seine Kleider waschen und seinen Leib mit Wasser abwaschen, so ist er rein.
Im 15. Kapitel desselben Buches geht es um den Ausfluss eines Mannes an seinem Glied, um das im Schlaf abgehende Sperma und um die Monatsblutung der Frau: die betreffenden Personen sowie alle, mit denen sie in Kontakt kommen, und auch alle Gegenstände, die sie berühren, gelten als unrein und bedürfen der rituellen Reinigung.
Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Bestimmungen, in welchen Fällen die Mikwe zu benutzen ist. Erst danach ist der Besuch des Gottesdienstes wieder erlaubt. Im 4. Buch Moses der Lutherbibel befiehlt Gott, denjenigen mit dem Tod zu bestrafen, der sich an diese Reinigungsgebote nicht hält. Wörtlich heißt es in der Übersetzung Luthers (4. Moses, 19, 10-13): „Und dies soll eine ewige Ordnung sein für die Israeliten und die Fremdlinge, die unter euch wohnen: Wer irgendeinen toten Menschen anrührt, der wird sieben Tage unrein sein. Er soll sich mit dem Reinigungswasser entsündigen am dritten Tage und am siebenten Tage, so wird er rein. Und wenn er sich nicht am dritten Tage und am siebenten Tage entsündigt, so wird er nicht rein. Wenn aber jemand irgendeinen toten Menschen anrührt und sich nicht entsündigen will, so macht er die Wohnung des Herrn unrein, und solch ein Mensch soll ausgerottet werden aus Israel. Weil das Reinigungswasser nicht über ihn gesprengt ist, ist er unrein; seine Unreinheit bleibt an ihm.“ Thea Altaras meint, dass Luther hier die Quelle nicht richtig wieder gegeben habe. In der jüdischen Version des Textes habe der Satz einen anderen Sinn.
Seit Jesaia, ca 500-400 vor der Neuen Zeitrechnung, ist es Vorschrift, sich vor dem Untertauchen gründlich - mit Seife - zu waschen, das "Vor-waschen".
Den unter Heiden abtrünnig gewordenen Juden sagt Gott durch den Propheten Hesekiel (36, 25): „... und ich will reines Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all eurer Unreinheit und von all euren Götzen will ich euch reinigen.“ Der Prophet Jesaja sagt seinen Glaubensbrüdern (12,3): „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen.“
Im Brief an die Hebräer fordert der unbekannte Verfasser die Adressaten auf (10,22): „so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.“ Der christliche Autor dieser Zeilen formuliert hier bezüglich der Reinigung mit Wasser noch ganz in jüdischer Tradition; die Christen seiner Generation werden möglicherweise die Mikwe noch benutzt haben.
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- Die Anlässe zur Benutzung der Mikweh
In Deutschland wird die Mikwe oft als „Frauenbad“ bezeichnet, weil sie hauptsächlich von Frauen nach der Menstruation aufgesucht wird. Sie dürfen geschlechtliche Beziehungen erst wieder aufnehmen, wenn sie am siebten Tag nach Ende der Regelblutung „getaucht“ haben. Vorher allerdings waschen oder baden sie sich, um mit sauberem Körper in die Mikwe zu gehen. Frauen benutzen die Mikwe außerdem vor der Hochzeit und nach einer Geburt.
Manche orthodoxe Männer halten sich noch an die alte Sitte, vor dem Sabbat und vor den hohen Festtagen ins Tauchbad zu gehen.
Auch Geschirr wird in der Mikwe rituell gereinigt: sowohl das Geschirr, das man soeben neu gekauft hat, als auch das Geschirr, das man für Fleischiges verwenden will, das aber vorher vielleicht von anderen für „Milchiges“ gebraucht wurde, oder umgekehrt, und schließlich Geschirr und andere Behälter oder Kleidungsstücke, die mit als unrein geltenden Tieren bzw. dem Aas von unreinen oder auch reinen Tieren in Berührung gekommen sind oder gekommen sein könnten.
Gegenstände, die von Nicht-Juden erworben wurden, bedürfen eines Tauchbades.
Wäsche oder Kleidung, die mit unreinen Körperausscheidungen in Berührung gekommen sind, werden ebenfalls im Tauchbad rituell gereinigt.
Ursprünglich hat es mehr Anlässe für die Benutzung der Mikwe gegeben.
Früher musste die Mikwe auch von Priestern vor dem Gottesdienst benutzt werden. Und schließlich haben Konvertiten, also Personen, die von einer anderen Religion zum Judentum übertraten, ein Tauchbad zu nehmen; es erinnert insofern an die christliche Taufe.
Es ist müßig zu fragen, warum in all diesen Fällen eine rituelle Reinigung nötig ist. Manchmal wird mit gesundheitlichen Gründen argumentiert, aber dann wird erstens unterstellt, dass es sich nicht immer ausschließlich um eine rituelle, sondern historisch zuerst auch um eine tatsächliche Säuberung handelte; und zweitens gibt es Reinigungsanlässe, die medizinisch nicht begründbar sind. Vielleicht ist es eben unsere Geisteshaltung, unsere Denkweise, die rationale Gründe verlangt. Für fromme Juden reicht es und muss es reichen, dass es ein entsprechendes Gebot Gottes gibt; die Frage nach dem „Warum“ stellt sich dann nicht.
Nicht jeder Jude, nicht jede Jüdin benutzt das Tauchbad. Wie in anderen Religionen auch, sind Juden verschieden fromm. Außerdem ist die Frage, ob und in welchen Fällen ein Bad in der Mikweh nötig ist, nicht nur abhängig von der persönlichen Glaubensintensität, sondern auch davon, welcher der vielen Richtungen des Judentums man angehört: Ist man eher orthodox oder eher reformiert? Kommt man aus Ost- oder aus Westeuropa, aus den USA oder aus Südamerika, aus Afrika oder einem asiatischen Staat? Wohnt man in Regionen, wo es Wasser in Überfluss gibt oder lebt man in einer Wüste? Verschiedene Herkunft hat durchaus auch Einfluss darauf, ob und in welcher Weise bestimmte Riten eingehalten werden.
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- Bauweise, Art und Weise der Nutzung
Das am Ende des vorigen Kapitels Dargestellte gilt auch für die bauliche Gestaltung und die Art und Weise der Nutzung einer Mikwe, vielleicht sogar in noch stärkerem Maße, denn bezüglich der Anlässe für die rituelle Reinigung kann man sich immerhin noch auch die Vorschriften der Thora, auf Gesetze Gottes berufen. Wenn es aber um die Frage geht, wie eine Mikwe auszusehen hat und wie Männer und Frauen in ihr zu baden haben, hilft die Thora nicht. Hier gibt es die Rabbinen, die im Laufe der Jahrhunderte - oft in der Diskussion und Auseinandersetzung mit anderen - Regeln erörtert und aufgestellt haben. Es mag Gemeinsamkeiten geben, die für mehrere religiöse Richtungen, vielleicht sogar für alle Juden gelten, aber es gibt da auch ganz erhebliche Unterschiede. Nicht alle Aussagen der alten Lehrer sind eindeutig; oft sind Interpretationen erforderlich. Auch aufgrund der Veränderung der Lebensweise, durch die Entwicklung neuer Baustoffe werden Regeln modifiziert oder geändert. Man unterstellt - sicherlich zu recht -, dass dieser oder jener Lehrer vor tausend oder gar fünfzehnhundert Jahren in Spanien oder in Mitteleuropa oder in Vorderasien seine Lehre aufgrund der damals und dort gegebenen Bedingungen entwickelt hat, dass sie auf das Heute und Hier nicht einfach übertragbar und deshalb anzupassen sind. Solche Anpassungen und Übertragungen werden auch heute von Rabbinern in der Auseinandersetzung mit den alten Texten und in der Diskussion mit anderen Glaubensforschern und -lehrern vorgenommen. So gibt es also auch in der Gegenwart Unterschiede hinsichtlich der baulichen Gestaltung wie auch der Art und Weise der Nutzung eines Ritualbades.
Wichtigste schriftliche Grundlage jeder Erörterung dieser Frage ist der Abschnitt über die „Mikwaot“ (Plural von Mikwe) in der Mischna, die um das Jahr 200 auf der Grundlage der Arbeit noch älterer Lehrer von Rabbi Jehuda zusammengestellt wurde und die Grundlage des Talmud bildet. In zehn Abschnitten wird dort auf alle Einzelheiten eingegangen und insbesondere behandelt, in welchen Fällen das Tauchbad rituell ungültig ist.
Übrigens nimmt nicht jeder Rabbiner für sich in Anspruch, über die Anlage einer Mikwe entscheiden zu dürfen. Thea Altaras, als Jüdin und Architektin Kennerin der Religion, der Riten und der Kultur im Judentum, schreibt in ihren zwei um 1990 erschienenen Büchern über das rituelle Tauchbad, dass es in ganz Deutschland derzeit niemanden gebe, der sich zutraut, in Zweifelsfragen der Einrichtung einer Mikwe zu entscheiden. In Gießen, wo Frau Altaras wohnte und arbeitete, hat man einen Rabbiner aus dem Ausland geholt, um Fehler zu vermeiden, die im Extremfall das Ritualbad ungültig machen können.[3] Der Name des verantwortlichen Rabbiners ist in Gießen an dem Tauchbad (Bautafel) angebracht. Er bürgt also nun auch nachträglich für eine der „Halachah“, den jüdischen Religionsgesetzen entsprechende Anlage.
Das hebräische Wort mikwa oder Mikwe bedeutet eine Sammlung oder Stauung von Wasser. Genutzt werden kann hierfür ein natürliches Wasser - ein Fluss, ein Teich oder See, ein Meer - oder ein künstliches Bad, dessen Wasser nicht mit einem Gefäß geschöpft oder durch Menschenhand in den Tauchbehälter gelangt ist. Ein fließendes Gewässer kann nur deshalb und dann als rituell geeignet betrachtet werden, wenn man in ihm eine Ansammlung von Quellwasser oder auch - vielleicht von der Jahreszeit abhängig - zumindest teilweise von Regen- oder Schmelzwasser sieht; der Leser dieser Zeilen erkennt: sogar in diesem Fall muss man „interpretieren“, „deuten“ und „umdeuten“, um entsprechend dem Ritus gültig zu handeln. Im Tauchbecken allerdings darf nur Grundwasser „fließen“, ansonsten muss es sich um ein stehendes Wasser handeln.
An eine gebaute Mikwe werden ganz bestimmte Anforderungen gestellt: sie muss so tief sein, dass man vollständig untertauchen kann.; nach Kolatch muss sie mindestens 762 Liter Wasser fassen und einen Zufluss „lebendigen“ Wassers haben, also aus einer Quelle oder einem Fluss gespeist sein. Thea Altaras nennt einen Mindestinhalt von 250 bis 800 ltr. Wasser, die dann ausreichen, wenn der Mensch in dem Becken völlig untertauchen kann.
Sie unterscheidet drei Arten geeigneten Wassers für ein rituelles Tauchbad: 1. Grund- bzw. Quellwasser, 2. „anfallendes“ Wasser, worunter sie Regenwasser oder geschmolzenen Schnee versteht, und 3. fließendes Wasser. Je nach Wasserart ist die Bauweise der Mikwe verschieden. Hierauf genauer einzugehen, ist für den Zweck dieser Schrift nicht nötig. Wer sich dafür interessiert, kann darüber in dem Buch der Thea Altaras nachlesen.
Wo es geht, wird man Mikwaot in Flussnähe bauen, um Flusswasser für das Bad zu nutzen, zumal in Fluss- oder Bachnähe in der Regel auch der Grundwasserspiegel höher ist. Hin und wieder allerdings wird ein tiefer Schacht bis auf Grundwasserniveau gegraben, um ein den Regeln entsprechendes Bad mit den dazugehörigen Wasserreservoirs bauen zu können.
Eine Frau reinigt sich in einer Mikwe, während ihr Mann im Bett auf sie wartet. Deutschland 1427/28 Foto gemeinfrei |
Geschirrreinigung in der Mikwe. Foto gemeinfrei |
Das rituelle Tauchbad bedarf einer gründlichen Vorbereitung. Speisevorschriften sind einzuhalten, der Körper muss gründlich gereinigt sein, und alle körperfremden Dinge (Ringe, sogar Prothesen und Haarnadeln) müssen entfernt werden. Der Körper wird dann bis auf die letzte Haarspitze untergetaucht, wobei durch Körperhaltung, Fingerspreizung usw. darauf zu achten ist, dass jeder Teil des Körpers mit dem Wasser in Berührung kommt. Augen und Lippen sind nur leicht zu schließen.
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- Die Mikwaot der Juden in Vöhl, Marienhagen und Basdorf
Besucher der ehemaligen Vöhler Synagoge fragen oft nach der Mikweh, weil sie von anderen Orten wissen, dass sich diese Einrichtung fast immer oder zumindest sehr oft im Synagogengebäude befindet. Dies gilt - wie oben erwähnt - für Gießen; aber auch in Weimar-Roth, wo man die ehemalige Synagoge vor einigen Jahren restauriert hat, war die Mikweh direkt neben dem Gebäude.
In Vöhl war das anders. In der Synagoge befand sich nie eine Mikweh. Anhand historischer Dokumente sei nun dargestellt, wie es die Juden unserer Heimat und die staatliche Obrigkeit mit den jüdischen Ritualbädern hielten.
Ein Schreiben der großherzoglich darmstädtischen Regierung vom 17. Juli 1813 ist das älteste Schriftstück, das uns zu diesem Thema vorliegt. Dort wird zwar zunächst das jüdische Gesetz gelobt, das den Frauen befiehlt, sich nach Menstruation oder Niederkunft zu reinigen (auch die Regierung hat ganz offensichtlich den nur rituellen Charakter dieser Reinigung nicht erkannt), aber das Gesetz werde „von den Juden zur Störung und Untergrabung der Gesundheit des weiblichen Geschlechts mißbraucht“; das Frauenbad sei in aller Regel ein tiefes Loch im Keller des Hauses mit eiskaltem Quellwasser, wodurch „die unheilbarsten Blutflüsse, Auszehrungen und Nervenzufälle (!)“ entstünden. Die Regierung forderte also den Bau warmer Bäder, was jedoch nicht geschah.
Fünf Jahre später, am 17. Juni 1818, berichtete der Physikus (= Arzt) Goldmann aus Vöhl der Regierung in Gießen von elf Bädern im Kreis Vöhl, darunter drei in Vöhl selbst und je eins in Basdorf und Marienhagen. Alle - auch die in Höringhausen, Altenlotheim und Eimelrod befindlichen - seien „ohne Ausnahme, sehr schädlich und verwerflich“. Dann beschreibt er sie näher:
„Sie sind alle in theils gewölbten, theils niedrigen, kaum 5 Schuhe hohen, feuchten, dumpfen, Balkenkellern, einige hervon haben helles, andere schmutziges, sehr übelriechendes, und kaltes garstiges Quellwasser, das in einem solchen Kellerloche beständig offen steht, und durch allerley verunreinigt wird. Die sich badende Weiber müssen sich in genannten Kellern aus- und anziehen, oder aus einer Stube nackt in einen solchen Keller, und von da wieder bis in die Stube gehen, wo sie sich anziehen, so daß man sich wundern muß, daß nicht noch weit mehr dießer Weiber erkranken.“
Er gesteht zu, dass man nicht überall „ein unschädliches Bad“ errichten kann, meint aber in Bezug auf Vöhl:
„Die Juden, deren hier 8 Familien wohnen, sind alle vermögend einige sogar sehr reich, doch ist bisher, obgleich sie selbß ein ordentliches Bad sehr wünschten, aus eigenem Antriebe, eins zu errichten, der Disharmonie wegen unterblieben, es müßen diese Leute daher gezwungen werden, und gerne folgen sie dann, meiner Überzeugung nach , dem Befehle.“
Er schlägt solche Bäder auch für Höringhausen und Eimelrod vor. Die Judenfrauenbäder in Marienhagen, Basdorf und Altenlotheim, wo die Familien zu arm seien, um seinen Vorstellungen entsprechende Mikwes zu bauen, sollten zugeworfen und die jüdischen Frauen angehalten werden, das Bad in Vöhl aufzusuchen. „Nicht nur als Physicus, sondern auch schon als Menschenfreund“ bittet er die Regierung, das „als zweckmäßig betrachtete, in der That aber mörderisch wirkende Gesetz“ so zu ändern, wie er es vorgeschlagen hat.
Wiederum zwei Jahre später scheint die Regierung in Gießen energisch werden zu wollen: Am 15. Januar 1820 fordert sie den Vöhler Justizamtmann auf, endlich etwas zu unternehmen. Die jüdische Gemeinde gibt nach, bestätigt durch Selig Salomo Rothschild die hygienischen Probleme hinsichtlich der Bäder und beantragt einen Neubau, den die Regierung genehmigt, doch dann geschieht wieder vier Jahre lang nichts. Im Januar 1824 fordert die Regierung erneut einen Zustandsbericht über die Bäder an, den Vöhl im Februar auch liefert. Der Brief schildert die Verhältnisse ähnlich schlimm wie der Bericht des Physikus von 1818, kommt aber auch zu dem Ergebnis, dass zumindest die „Juden zu Altenlotheim, Marienhagen und Basdorf neue unschädliche Bäder, wenn ... nur einigermaßen beträchtliche Kosten verbunden seyn sollten, bey ihren dürftigen Vermögens-Umstände nicht werden anlegen können.“ Doch jetzt will die Regierung endlich Taten sehen. Im Januar 1825 fordert sie den Vöhler Landrat Krebs auf, innerhalb von 14 Tagen mit der „Verschüttung“ der Bäder zu beginnen. Der Landrat beeilt sich nicht: Erst nach Ablauf der Frist richtet er diese Aufforderung an die Vöhler Bürgermeister, diesmal mit Fristsetzung von vier Tagen. Der Bürgermeister berichtet, „daß die Juden in der Gemeinde Basdorf keine Erdbäder vor die Juden Frauen mehr haben Feidel Keiser[2] hat einen Brunnen im Keller welcher früher zu diesem Gebrauch gewest ist, er ihn aber anjezo zum Brunnen benutzte vor seinen Haushalt“. Und der Marienhagener Bürgermeister antwortet entschieden: „... in Marienhagen gibt es kein Erdbad.“
Wegen der ungewohnten Sprache schwer zu lesen, aber doch recht interessant ist das Schreiben, das der Vöhler Landrat Krebs am 25. Februar 1825 nach Gießen schickte:
„In Folge der obigen hohen Verfügung wurden die beref. Bürgermeister sogleich beauftragt, sämmtliche jüdische Erdbäder verschütten zu lassen, hierauf liefen aber aus allen Orten Reclamationen ein, welche mich bestimmten, den gegebenen Befehl zurückzunehmen. Die meister dieser Bäder werden nämlich nicht allein als solche benutzt, sondern dienen zugleich entweder als Brunnen für’s Vieh, oder in den Kellern, worin sich kein Abzug anbringen läßt, dazu, das Wasser auf einen Punkt zu sammeln, und sich dann auch besonders hier in Vöhl, wo an Wasserbehältern Mangel ist, bey Feuers brunsten sehr nützlich. Um indessen den von dieser hohen Bulle [=Gesetz] beabsichtigten Zweck auch zu erreichen, um zugleich auch den gerechten Wunsche der BadEigenthümer zu befriedigen, habe ich der Judenschaft dahier, zu Höringhausen und Eimelrod aufgegeben, ihre Bäder, wenn sie solche nicht verschüttet haben, mit, den Gebrauch derselben, als solche, unmöglich machenden Brunnengehäusen zu versehen und in jedem dieser Orte (die übrigen Marienhagen, Altlotheim und Basdorf haben gar keine Bäder) binnen 4 Wochen auf gemeinschaftliche Kosten ein Bad anzulegen, welches der Gr. Gerichtsarzt als der Gesundheit nicht nachtheilig erkennt. Dies will ich einstweilen mit dem Anfügen unterthänig berichten, daß ich nach Verlauf des gesetzten Termins den Ertrag dieser Anordnung, wenn sie anders von hoher Regierung nicht mißbilligt wird, anzuzeigen nicht ermangeln werde.“
Gießen kritisierte nun am 8. März, dass der Landrat sich nicht damit begnügt hatte, Mikwaot zu verschütten, sondern den jüdischen Gemeinden auch aufgegeben habe, ein gemeindliches Bad anzulegen. Er solle diesen Teil seiner Weisung wieder zurücknehmen, es sei seine Aufgabe, „blos diejenigen Vorrichtungen zu entfernen, welche der Gesundheit nachtheilig sind.“
Erstaunlicherweise folgt der Landrat diesem Befehl nicht. Er fordert Bürgermeister Küthe fünf Tage später auf, nicht verschüttete Erdbäder mit Brunnengehäusen zu versehen, die die Benutzung als Mikwe unmöglich machen, und in jedem Ort wenigstens ein neues Bad entsprechend den Vorschriften des Bezirksphysikus zu errichten. Private Bäder erlaubte er ausdrücklich und stellte deren Eigentümer von der Kostenbeteiligung am Gemeinschaftsbad frei.
Bezirksphysicus Braun bestätigte bereits am 21. April 1825 in einem Testat, “daß Bär Katzenstein seinem Bade eine solche Genehmigung gegeben habe, daß dasselbe jetzt wohl ziemlich tauglich ist.” (Gemeint ist wohl, dass Bär Katzenstein die Mikwe in seinem Haus so eingerichtet hat, dass sie genehmigungsfähig war.)
Allerdings ist unklar, ob tatsächlich Bär Katzenstein gemeint ist, weil Landrat Krebs der Gießener Regierung gegenüber Simon Katzenstein als den Eigentümer einer ordnungsgemäßen Mikwe bezeichnet. Ansonsten meldet der Landrat Vollzug: alle jüdischen Erdbäder seien nun für ihren ursprünglichen Zweck unbrauchbar.
Foto: Walter Schauderna
Eines der ehemals Katzensteinschen Häuser in der Mittelgasse 15. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum: Familie Katzenstein, Bär und Simon.
Am 30. Juli ergeht eine Order aus Gießen an den Kreis Vöhl, der die Bedingungen zum Bau einer ordnungsgemäßen Mikwe aufzählt:
- die Baukosten und der Unterhalt sind eine Angelegenheit der israelitischen Gemeinde;
- der Bezirksarzt muss die Tauglichkeit attestieren;
- das Wasser darf nicht länger als einen Tag stehen und muss ablassbar sein;
- die attestierenden Ärzte haben zu berücksichtigen, dass „eine jüdische Badeeinrichtung nur dann
zulässig ist, wenn dazu ein fließendes Quell-, Fluss- oder Regenwasser genommen wird, welches
durch Rinnen geleitet wird“;
- Erdbäder müssen ausgemauert oder in ähnlicher Weise befestigt sein;
- kalte Bäder sind verboten; das Badezimmer muss erwärmbar sein;
- die Treppe ins Bad muss aus Eichenholz sein;
- einmal im Jahr hat eine Inspektion durch den Physicus zu erfolgen;
- für das Bad ist eine „verheurathete jüdische Aufseherin“ vorzusehen.
Im März des folgenden Jahres empfiehlt die Regierung den Landräten, die jüdischen Gemeinden auf eine Schrift des Battenberger Judenlehrers Birkenstein hinzuweisen, in der dieser sich mit dem „Baden der Judenweiber“ beschäftigt und das sehr nützlich sei.
1835/36 werden die Mikwes wieder zum Gegenstand der Diskussion.
Foto: Walter Schauderna
Hier, Arolser Str. 19, stand früher das Haus von Selig Stern, in dem sich eine Mikwe befand. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum: Familie Stern, David.
Foto: Walter Schauderna
Das Bild zeigt ein Grundstücke in der Arolser Str. 13, auf denen früher 3 Häuser jüdischer Familien standen; auch das Haus der Schönhofs, in dessen Keller eine Mikwe war. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum Familie Schönhof.
Bürgermeister Knoche aus Marienhagen visitierte die Keller aller jüdischen Familien, hat „aber bey keinem keine Brunnen und Badlöcher angetroffen.“ Anders der neue Physikus Dr. Nuß in den anderen Orten des Kreises. In Altenlotheim und Höringhausen hat er je ein Bad, in Eimelrod deren zwei vorgefunden; außerdem „eins in Basdorf in der Wohnung von Feist Kaiser ...und drey in Vöhl in den Wohnungen von Selig Stern, Joseph Kugelmann und Ascher Rothschild.“ Mit Ausnahme des Bades im Rothschildschen Hause seien alle ungeeignet, kleine Löcher in dumpfen Kellern, mit schlechtem, übel riechendem Wasser, manchmal auch nur sehr umständlich erreichbar. Auch das Rothschildsche Frauenbad laboriere an diesen Mängeln, habe aber ein elegantes Aussehen, sogar die ganz „zweckdienliche Ferrichtung ..., daß man einem über dem Bad angebrachten Kessel erwärmtes Wasser unmittelbar in dasselbe leiten kann.“ Dr. Nuß untersagte allen außer Rothschild die Nutzung ihrer Bäder und informierte die betreffenden Bürgermeister entsprechend. Selig Stern und Joseph Kugelmann erklärten, „daß sie dieselben schon lange nicht mehr zum Bade benutzt hatten - sie aber dieselben aus dem Grunde nicht zuwerfen lassen könnten - weil die Keller ansonsten voller Wasser wäre“, eine Angabe, die der Physikus nicht bezweifeln wollte. Die Inspektion der Bäder wollte Dr. Nuß sich bezahlen lassen, und zwar von den jüdischen Gemeinden; die Basdorfer Juden scheinen dies nicht eingesehen zu haben, denn sie mussten noch im Oktober 1836 vom Kreisrat mit Auspfändung wegen der 1 ½ Gulden Gebühr bedroht werden.
Fotos: Walter Schauderna
Haus des Ascher Rothschild mit der Tür zur vermuteten Mikwe in der Arolser Str. 8. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über die Stammbäume: Familie Rothschild, Ascher + Sprinz und Familie Rothschild, Ascher + Blümchen.
Im Juni 1840 wurde der Schriftverkehr wegen der Frauenbäder fortgesetzt. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde gab es Stimmen, die neue Bäder forderten. So schrieb der Frucht- und Viehhändler Moses Schaumburg, Mitglied des israelitischen Gemeindevorstands, am 26. Juni an den Vöhler „Gerichtsrath“: „nach allerhöchster bestimmung von 1831 des RGb No 77 sollen die frauenbäder für die isralitten so Eingerichtet werden, daß sie der Gesamtheit nicht Schaden! Was aber hir leider der fall nicht ist ich habe deisen Gegenstand schon vor mehre Jahre angezeigt.“ Er fährt fort: „ich ersuche Daher Gr. Hess. Greisamt, der gehorsamste bitte! Zu verfüge das Endlich Einmahl das ziel erreicht wird, und ein neues Frauenbaht für die isralittesche Gemeinde, nach der allerhöchste Verordnung zu Stande komt was doch gewiß ein bedeudendes Bedürfnis iß, und muß deshalb um baldige Verfügung bitten.“ Mit Verweis auf das Schaumburgsche Schreiben fordert der Kreisrat die jüdische Gemeinde auf, „die Sache in reichliche Erwägung und Berathung zu ziehen und ... das Protokoll berichtlich einzusenden.“
Für den jüdischen Gemeindevorstand antworten am 6. Juli der Handelsmann und Färber Salomon Kugelmann, wohnhaft im Haus Nr. 26, heute Arolser Straße 23, und der besagte Moses Schaumburg: „1.Ein Neues Bathaus zu erbauen sind wir Bereit aber mit dem Bedenken, das wir nich im Stand sein aus unseren Mitteln zur erbauung dasselbe weill die Gemeinde kaum erst 10 Jahren ein Neues Gottes Haus gebaut hatt welches über 3000 fl gekostet hatt unt solches bereit bezahlt bis auf 700 fl also wenn wir solches Baun schuldig sind so bitten wir nun Groß-hess. Hochlöblichen ... Kreisrath um Genehmigung solches Capital zu Lehnen zu dürfen, weil wir nicht im Stand sind solches aus Eigenen Mittel anzuschaffen. Ich als Vorster Kugelmann Bitte um Baldige ... (gemeint ist wohl Antwort oder Genehmigung; das Wort ist im Original nicht lesbar), weil wir müßen einen Bauris vom ... Kreisbaumeister darüber haben und einen geeigneten Blatz dazu kaufen.“
Anscheinend hat sich in der Folge nichts getan. 1853 wird in einem Bericht über das Gesundheits- und Sozialwesen in Vöhl über die schlechte Beschaffenheit der Judenfrauenbäder geklagt. Zumindest in Vöhl könne eins gebaut werden, und „die Basdörfer Juden möchten hieran partizipieren.“ Doch der Vorstand der jüdischen Gemeinde bleibt uneinsichtig: ein Bedürfnis zur Erbauung aus Gemeindemitteln liege nicht vor. 1860 drängt das Kreisamt erneut, ordnet 1861 sogar den Bau an, doch in Schreiben aus den Jahren 1861 und 1862 lehnt die selbstbewusster werdende jüdische Gemeinde dies ab. Es gebe Frauenbäder in Privatbesitz, und den Bau eines Bades durch die Gemeinde könne man sich wegen der zu hohen Kosten nicht leisten.
Aus der Zeit danach liegen keine Dokumente zu diesem Thema vor; vielleicht deshalb, weil Vöhler Akten aus der Zeit nach 1866 nicht mehr im Marburger Staatsarchiv gesammelt wurden, vielleicht aber auch, weil die nach dem Krieg von 1866 neu zuständige preußische Regierung sich nicht mehr um dieses Thema kümmerte. Wir wissen heute von zwei, vielleicht drei Mikwaot in Privatbesitz, die in den folgenden Jahrzehnten zur Verfügung standen. Ursula Behrend, geb. Mildenberg, die in der Mittelgasse in dem Haus unterhalb der Synagoge wohnte, meint, dass es vor ihrer Zeit, d.h. wohl vor 1924, eine Mikwe im Haus ihrer Eltern gegeben habe: „... in der alten Wurstküche gegenüber von der Waschküche“.
Foto: Walter Schauderna
Das ehemals Sally Mildenberg gehörende Haus in der Mittelgasse 11, in dessen Keller sich eine Mikwe befand. Informationen zu den Personen und deren Angehörigen erhalten Sie über den Stammbaum: Familie Mildenberg, Levi.
Frau Anneliese Bender, geb. Braun, geb. 1913 im Haus Heinze (später Ruhwedel und Urmoneit, heute Seniorenheim) in der Arolser Straße, bis 1918 und dann wieder während des 2. Weltkrieges wohnhaft in Vöhl, kann sich erinnern, dass im Haus des Ascher Rothschild, im Bereich der späteren Backstube, ein „Brunnen“ im Haus war, den wir uns sicherlich als eine Mikwe vorstellen dürfen. Wenn wir weiter annehmen, dass es zu diesem Raum einen separaten Zugang von der Arolser Straße her gab, wie wir ihn heute noch kennen, dann war diese Mikwe sicherlich auch den anderen Juden des Dorfes leicht zugänglich.
Frau Krauß-Backhausen weiß vom Hörensagen, dass im Keller des heutigen Hauses Demmer in der unteren Mittelgasse eine Mikwe „über den Bach gebaut“ gewesen sei. Hier wird es sich um die schon weiter oben erwähnte Mikwe im Haus entweder des Bär oder des Simon Katzenstein gehandelt haben. Wie die Formulierung „im Keller ... über dem Bach gebaut“ konkret zu verstehen ist, ist noch nicht ganz klar.
Eine Bewertung der hier vorgestellten Dokumente zu den Mikwaot in Vöhl muss in aller Vorsicht vorgenommen werden. Es wäre sicherlich voreilig, den Behörden, die die Zuschüttung oder Unbrauchbarmachung der Frauenbäder anordneten, eine Gegnerschaft gegenüber Juden zu unterstellen. Immerhin belegen auch Aussagen von Juden selbst, dass sich die Mikwaot in schlechtem Zustand befanden. Einige Formulierungen des Physikus Goldmann oder auch der Regierungsbehörde in Gießen wirken übertrieben, vielleicht auch heuchlerisch in Bezug auf ihre Sorge um die Gesundheit der Badbenutzer. Hin und wieder scheint das Ziel der Maßnahmen nur zu sein, ärgern und behindern zu wollen.
Unterscheiden muss man wohl zwischen der Haltung der Regierung in Gießen und der des Kreisamtes in Vöhl, zumindest in der Amtszeit des Kreisrates Krebs. Krebs scheint „näher dran“ gewesen zu sein als seine vorgesetzte Behörde; er versucht Weisungen zu mildern und hat anscheinend auch den Mut, anders zu entscheiden, als es ihm vorgegeben wurde. Und auch die Bürgermeister von Vöhl, Basdorf und Marienhagen wollten ihren jüdischen Gemeindemitgliedern wohl helfen; ihre Meldung, es gebe keine oder keine in Benutzung befindlichen Frauenbäder in ihren Dörfern, überzeugen nicht und wurden wohl in der Absicht gegeben, den jüdischen Mitbürgern Ärger zu ersparen.
Andererseits gewinnt man allerdings auch den Eindruck, dass die Vöhler Juden zumindest bezüglich der Benutzung von Mikwaot nicht allzu bibeltreu oder „orthodox“ gewesen sind. Die religiöse Vorschrift ist die eine, ihre Befolgung eine ganz andere Sache. Insbesondere die Männer befreiten sich im Laufe der Jahrhunderte nach und nach von den Zwängen und Vorschriften zum Tauchbad, die einen offen, andere zunächst heimlich. Durch äußere Gegebenheiten - den Beruf, die gesellschaftliche oder auch landschaftliche Umgebung - ließ man sich zu Nachlässigkeiten verführen und verzichtete schließlich ganz auf Beachtung der alten Riten.
Vielleicht waren Anpassung und Assimilation in die Bevölkerungsmehrheit im Vöhl des 19. Jahrhunderts schwächer als in den jüdischen Zentren in Frankfurt oder Berlin, aber tendenziell gab es sicher auch hier ein Nachlassen der Frömmigkeit.
Für die jüdischen Frauen wird es schwerer gewesen sein, sich von den traditionellen Verpflichtungen zum Tauchbad zu lösen, weil sie das Bad in Situationen nutzten, die mit Sexualität und dem Intimbereich zu tun hatten, worüber man in der Öffentlichkeit gar nicht und auch in der Familie nicht so offen sprach. Doch auch die Frauen wurden offener und freier. Von mehreren jüdischen Frauen wissen wir, dass sie die Geschäfte ihrer Männer nach deren Tod weiterführten. Johanna Blum scheint sogar eine sehr erfolgreiche Geschäftsfrau schon Ende des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein.
Die Vöhler Mikwaot in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts waren wohl tatsächlich in dem schlimmen Zustand, der geschildert wurde. Doch gewinnt man außerdem den Eindruck, dass sie nicht unbedingt regelmäßig benutzt wurden. Sie waren da, und das genügte vielleicht, um das religiöse Gewissen zu beruhigen oder den Schein der Frömmigkeit zu wahren. Sicher gab es dann auch mal jemanden wie Loeb Moses Schaumburg, der auf die Einhaltung der Religionsgesetze pochte, doch das verlor sich dann mit der Zeit.
(Alle zitierten Akten befinden sich im Staatsarchiv Marburg, Bestand 111 k Vöhl 295.)
Literaturverzeichnis:
Thea Altaras: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945? Teil II, Königstein im Taunus 1994
Ruth Gay: Geschichte der Juden in Deutschland. Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, München 1993
Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997
Jüdisches Museum, Frankfurt am Main, Texte von Georg Heuberger, München/New York 1997
Jüdisches Museum, Museum Judengasse: Katalog zur Dauerausstellung, Frankfurt am Main 1992
Alfred J. Kolatch: Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten, Wiesbaden 1999
[3] Dem Verfasser dieser Zeilen ist ein solcher Gedanke absolut fremd: Menschen, die in festem Glauben an die Bedeutung und Wirkung des Bades dort tauchen, sind doch auch von Gott nicht deshalb zu bestrafen, weil andere bei der Errichtung der Badanlage Fehler begangen haben.