Das Mahnmal und die Stelen

Lebensgroßer,stilisierter Mensch aus schwarzem Metall in einem Rahmen, zu dem eine schwarze Rampe hochführt.© Kurt-Willi Julius
"Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod" (2007) von E. R. Nele

Mahnmal des Landkreises Waldeck-Frankenberg
für alle Deportierten der NS-Zeit.
Fortsetzung Beschreibung Mahnmal

Frau E.R. Nele mit Kurt-Willi Julius
© Kurt-Willi Julius

Frau E. R. Nele
© Kurt-Willi Julius


Rede des 1. Vorsitzenden des Beirats
des Förderkreis "Synagoge in Vöhl" e.V.
Karl-Heinz Stadtler zur Einweihung
am 7. September 2007

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

wenn Sie nach dieser Veranstaltung im Hof einen Blick in den Sakralraum der Synagoge werfen, wozu ich Sie schon jetzt herzliche einlade, werden Sie dort eine Präsentation sehen, die die Namen der deportierten Juden aus Waldeck-Frankenberg zeigt. Alle zehn Sekunden werden Sie dort einen neuen Namen sehen; wenn sie alle Namen sehen wollen, müssen Sie sich auf eine Dauer von fast 2 Stunden einrichten. Nicht ganz 700 Namen haben wir ermittelt; 700 Namen von Juden. Doch nicht nur Juden fielen dem Wahn des Rassismus zum Opfer; Sinti und Roma, Behinderte, Zeugen Jehova, Homosexuelle, politisch Andersdenkende wurden ausgegrenzt, verfolgt, deportiert und vernichtet. Hier steckt die Forschung in unserem Landkreis noch in den Anfängen, doch ich bin sicher, dass die Zahl der Namen, die wir in der Vöhler Synagoge zeigen, weiter wachsen wird. 700 Menschen, um bei dieser Zahl zu bleiben, das sind fast so viele, wie Vöhls Nachbarort Marienhagen Einwohner hat. Sie alle werden Orte kennen, die ähnlich groß sind.

Doch diese 700 Menschen, die lebten nicht in einem einzigen Ort zusammen, sondern waren über viele Kommunen in diesem Landkreis verteilt:

Allendorf (Eder)
18
Bad Arolsen
74
Bad Wildungen
76
Battenberg
18
Bromskirchen
4
Diemelsee
20
Diemelstadt
48
Edertal
23
Frankenau
44
Frankenberg
47
Gemünden
62
Haina (Kloster)
21
Hatzfeld
4
Korbach
62
Rosenthal
23
Vöhl
57
Volkmarsen
23
Waldeck
48
Willingen
23


Sie verschwanden aus unseren Dörfern und Städten, und das geschah nicht still und heimlich. Den Boykott jüdischer Geschäfte, die Verbote, bestimmte Berufe auszuüben, die Nürnberger Gesetze, die Schilder auf den Parkbänken mit der Aufschrift "Für Juden" oder "Für Arier", die Reichspogromnacht, in der unzählige Synagogen zum Raub der Flammen wurden und 30.000 jüdische Männer auf einen Schlag in Konzentrationslager eingewiesen wurden, das Tragen der Judensterne, das Verschwinden der Juden aus den Dörfern und Städten mit anschließender öffentlicher Versteigerung von deren Eigentum - in den Dörfern durch die Bürgermeister - ; - meine Damen und Herren, was damals geschah und was ich eben aufgezählt habe, das war für den jeden und jede offensichtlich. Man akzeptierte, was geschah; man nahm es hin; viele machten mit, weil sie sich Vorteile versprachen: Geld und Karriere.

Auch hier bei uns in den Dörfern und Städten Waldeck-Frankenbergs schaute man weg oder machte gar mit. Von Protest und Widerstand ist kaum etwas bekannt. Und dann waren es Leute aus demselben Dorf - Nachbarn, frühere Sangesbrüder und Sportkameraden - , die die Männer oder Frauen aus ihren Häusern holten und zum Bahnhof, in Vöhl zum Beispiel zum Bahnhof Itter brachten, von wo aus sie zunächst nach Kassel und dann von dort nach Riga, nach Sobibor, nach Majdanek oder nach Theresienstadt gebracht wurden.

Wenn ich dies hier schildere, meine sehr geehrten Damen und Herren, so nicht, um anzuklagen oder zu beschuldigen. Denn mein Bestreben und das des Förderkreises Synaogoge in Vöhl, in dessen Namen Sie heute zu begrüßen ich die Ehre habe, ist nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft orientiert. Das furchtbare Geschehene darf sich nicht wiederholen. Deshalb ist ein Mahnmal wie das, das wir heute gemeinsam einweihen, so wichtig.

"Ganz normale Männer", im englischen Original "Ordinary Men", betitelte Christopher Browning ein Buch, in dem er die Arbeit eines Hamburger Reserve-Polizeibataillons beschreibt, das im Sommer 1942 nach Polen zu einem Sonderauftrag geschickt wurde. In den Dörfern und kleinen Städten rund um Lublin sollten sie Juden aufspüren, Arbeitsfähige zum Lagereinsatz aussondern und die übrigen - Alte, Kranke, Frauen und Kinder - auf der Stelle erschießen. Vor ihrem Einsatz machte der Kommandant den 500 ganz normalen Polizisten aus dem Reich das Angebot, wer sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühle, könne sein Gewehr abgeben und würde dann zu einer anderen Aufgabe eingesetzt. Von den 500 meldeten sich gerade mal 12. Alle anderen waren zum Mitmachen bereit.

Wie sehr müssen diese Menschen verführt worden sein, wie sehr müssen sie durch staatliche Propaganda in den Medien, in den Schulen und Universitäten sowie durch Veranstaltungen der Partei und des Ein-Parteien-Staates beeinflusst und indoktriniert worden sein?! Wie sehr müssen aber auch Vorurteile schon vorher dagewesen sein? Und wie sehr muss die Bereitschaft zur Gewaltanwendung, insbesondere auch die Bereitschaft zur Überwindung von moralisch oder religiös bedingten Hemmungen vorhanden gewesen sein?!

Wir müssen uns dies immer wieder bewusst machen. Wir brauchen die Bereitschaft zur Kritik und die Fähigkeit zur kritischen Reflexion gerade auch gegenüber dem Staat und gegenüber den politischen Entscheidungsträgern und Entscheidungen, um auch nur die Möglichkeit zu verhindern, dass Politiker und Parteien uns als die Bürgerinnen und Bürger für falsche Ziele und Zwecke missbrauchen. Auch dazu fordert dieses Mahnmal auf.

Meine Damen und Herren,

heute exakt vor 7 Jahren standen 15 ehemalige Vöhler Juden bzw. ihre Nachfahren und Verwandten in diesem Hof, und der älteste und der jüngsten von ihnen - Richard Rothschild und Geoffey Baird - pflanzten diesen Apfelbaum. Der Baum der Erkenntnis, der uns vor allem auch lehren soll, zwischen Gut und Böse, zwischen Falsch und Richtig zu unterscheiden, sollte vor allem auch deutlich machen, dass wir gemeinsam an eine gemeinsame Zukunft glauben, in einer Welt, in der für jeden Platz ist und die uns allen gemeinsam gehört. Eine Welt, in der wir Verantwortung tragen für uns und für alle, die mit uns sind.

In diesem Hof steht seit einigen Tagen ein Stein, den ich den "Sag ‚Nein'"-Stein nennen möchte. Ein Diabas hier aus der Region, der älter ist als die Menschheit, und der uns jetzt und für die Zukunft auffordern soll, Nein zu sagen, wenn wir dazu aufgefordert werden, Menschen aus irgend welchen Gründen zu diskriminieren, sie auszugrenzen, sie aus unserer Umgebung wegzuholen, sie zu deportieren und sie gar umzubringen.

Und seit heute steht hier ein Mahnmal mit dem Titel "Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod", das daran erinnert, dass das, was für die Zukunft ausgeschlossen werden soll, tatsächlich geschehen ist. Geschehen hier bei uns, mitten in dem doch so zivilisierten Europa, und verantwortet von einem Volk, das stolz darauf ist, einen Goethe und einen Schiller, einen Kant und einen Hegel hervorgebracht zu haben.

Geschehen auch in unseren Dörfern und Städten, unter Beteiligung unserer Eltern und Großeltern, unter Beteiligung von Menschen also, die uns die Nächsten waren.

Menschen waren damals ganz offensichtlich nicht in der Lage, in dem jeweils Anderen auch einen Menschen zu sehen. Deshalb, so glaube ich, ist es ganz wichtig, unsere Kinder und Kindeskinder in der Familie und in der Schule, aber auch im Dorf und in der Stadt so zu erziehen und bilden, dass sie im Anderen nicht nur den Nächsten sehen, sondern sogar sich selbst. Dass Sie ihn wahrnehmen als jemanden, der genauso denkt, genauso fühlt, dieselben Empfindungen, Empfindlichkeiten und Verletzlichkeiten hat, der Glück, der aber auch genauso Leid und Schmerz empfinden kann wie man selbst.

Dann - da bin ich sicher - können wir mit berechtigter Zuversicht in die Zukunft blicken.


© E. R. Nele

© E. R. Nele


© Kurt-Willi Julius

© Kurt-Willi Julius

© Kurt-Willi Julius

© Kurt-Willi Julius

Stelen: ERINNERN-WACHEN-ERLEBEN


4 Stelen im Garten der Synagoge
Foto: Karl-Heinz Stadtler
Stelen von Marina und Haymo Aletsee, Andreas Laugesen, , Marco Bruckner, und Adrian DeDea
 

Stele aus Metall: Schwarzes Kreuz mit eingeschriebenem Davidstern
Foto: Ulrich Müller
Stele von Eitan Jacob Katz, , Titel "Hoffnung" (2021)

Weiße Holzsäule mit einer kerzenhaltenden Hand
Foto:  Ulrich Müller
Stele von Tobias Kerger, (2021); Jetzige Aufstellung in der Synagoge.

Im Jahre 2021 konnte der Förderverein aus einem Kunstwettbewerb 6 Stelen ankaufen, die um und in der Synagoge aufgestellt sind. Die gesamte Ausstellung sehen sie unter dem Link:

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