Jüdische Familien in Vöhl

Geschichte Vöhler Juden

von Karl-Heinz Stadtler

Karte des Fürstentum Waldecks 1789
©Thomas Höckmann 2005

Herrschaft Itter, Kreis Vöhl

Aus dem von Herzhausen am Edersee bis zur Diemel reichenden mittelalterlichen Ittergau entwickelte sich im 12. Jahrhundert die Herrschaft Itter, später Kreis Vöhl. Im Zusammenhang mit den Friedensregelungen des Dreißigjährigen Krieges wurden die 20 Dörfer eine Exklave Hessen-Darmstadts zwischen Waldeck und Hessen-Kassel. Die folgende Karte zeigt, dass die Herrschaft Itter wiederum Exklaven im Waldeckischen hatte, nämlich Höringhausen, Eimelrod, Deisfeld und Hemmighausen.

Die Landgrafschaft, das spätere Großherzogtum Hessen-Darmstadt, war nun wahrlich kein judenfreundlicher Staat, wie mehrere Judenordnungen belegen; allerdings ließ man die Ansiedlung jüdischer Familien im Grenzgebiet zu, möglicherweise um die Exklave wirtschaftlich zu stärken. Zur jüdischen Gemeinde in Vöhl gehörten auch Familien aus den Nachbarorten Marienhagen, Basdorf und Oberwerba. Eine ebenso große Gemeinde entstand in Höringhausen, kleinere in Altenlotheim und Eimelrod. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung der genannten Orte lag zwischen 15 und 20 Prozent.

Der älteste schriftliche Nachweis für einen Juden in Vöhl stammt aus dem Jahr 1682. 1705 waren bereits 8 Vöhler Häuser im Besitz von Juden. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts stieg die Zahl der Israeliten, wie man sie oft nannte, auf 140.

Fortsetzung

Das Innere des Sakralraums anlässlich einer Gedenkfeier zur Reichspogromnacht

Die Vöhler Synagoge

1827 errichteten die Juden aus Vöhl, Basdorf, Marienhagen und Ober-Werba eine Synagoge, die gleichzeitig bis 1881 auch als Schule der jüdischen Kinder diente. Das Gebäude unterschied sich nicht von irgendwelchen anderen Häusern in der Nachbarschaft: es versteckte sich zwischen ihnen. Von außen war (und ist) nicht zu erkennen, dass sich rechts der Eingangstür ein über drei Geschosse erstreckender Sakralraum befindet.

Im linken Teil des Gebäudes wohnte bis 1881 der jüdische Lehrer mit seiner Familie; ab 1839 war dies Salomon Bär, ein Mann von anerkannt guter pädagogischer Ausbildung, der später auch zu den Honoratioren des Dorfes gehörte.

Im August 1938 verkauften – wohl unter staatlichem Druck – die dreizehn noch verbliebenen Juden die Synagoge an eine gerade zugezogene christliche Familie, weshalb das Gebäude die Pogromnacht, die Zeit der Hitler-Herrschaft und des Krieges überstand. Es war ständig bewohnt; im Sakralraum befand sich bis 1974 ein Baustofflager, danach diente er als Trockenraum für die Wäsche. Deshalb blieb er mit seinem sternenübersäten blauen Himmel und der fast ringsum verlaufenden Frauenempore fast unverändert erhalten.

Der jüdische Friedhof

Drei Jahre nach dem Bau der Synagoge (1830) erwirkte der Vorstand der Gemeinde die Genehmigung des Kreisrats für die Ausweisung eines jüdischen Friedhofs am Ortsrand. Vorher waren die Vöhler Juden wohl im damals drei Fußstunden entfernten Frankenau bestattet worden.

Im Dritten Reich wurde der Friedhof zweimal geschändet. Mitte der dreißiger Jahre stießen wohl Jugendliche Grabsteine um. 1941 ordnete der Regierungspräsident in Kassel die Schließung der jüdischen Friedhöfe im damaligen Landkreis Frankenberg an. In einigen Orten ist man dieser Weisung wohl nicht so prompt und umfassend nachgekommen wie in Vöhl, wo der Friedhof komplett eingeebnet wurde. Alle Grabsteine wurden entfernt und am Ortsrand gelagert. Dort bedienten sich die Bürger beim Bau ihrer Häuser; ganze Wagenladungen wurden nach Basdorf, sicher auch in andere Nachbarorte geholt. Bei Kriegsende waren noch 45 Steine vorhanden, die auf Weisung der Besatzungsmacht auf dem Friedhof wieder aufzustellen waren.

 

Haus des Ascher Rothschild

Mehrere große Häuser des heutigen Vöhl wurden von Juden erbaut und bewohnt. Sehr vermögend war der Händler, Kaufmann und Geldverleiher Ascher Rothschild, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein heute noch sehr auffälliges Haus in der Ortsmitte baute.

In dem Gebäude befand sich eine Mikwe, die wohl auch anderen Familien zur Verfügung stand. Nach 1881 war hier die jüdische Schule untergebracht, und die Lehrer wohnten in diesem Haus. Ascher Rothschild finanzierte auch den Bau des Schiffs der evangelischen Kirche, das um 1840 wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste.

Weitere reiche Familien waren die Salbergs, die Kaisers und die Sterns; auch den Blums und zeitweise den Katzensteins ging es wohl recht gut. Unter den Juden gab es allerdings auch bittere Armut; dies galt für Zweige der Familien Kugelmann und Liebmann, insbesondere aber für die Familie Lazarus, die als Lumpensammler ihren Lebensunterhalt bestritt.

Weitere Namen größerer Familien in Vöhl, Basdorf und Marienhagen: Bär, Frankenthal, Kratzenstein, Külsheimer, Laser, Löwenstern, Meyer, Mildenberg, Schaumburg, Schönhof und Schönthal.

Die häufigsten Berufe: Schlachter, Vieh-, Frucht-, Spinnerei-, Woll-, Ellenwaren-, Häute und Lederhändler. Die meisten Juden hatten – wie auch die christlichen Familien – nebenbei eine kleine Landwirtschaft. Mitte des 18. Jahrhunderts erstritt sich Simon Mildenberg das Recht, Lehrlinge zu Schreinern auszubilden.

Integration ins Dorf?

Juden und Christen lebten die längste Zeit mehr neben- als miteinander im Dorf. Das Verhältnis zwischen ihnen verbesserte sich langsam, aber stetig. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gehörten zahlreiche Juden dem Gemeinderat an, einige von ihnen zwanzig, David Stern sogar vierzig Jahre lang. Auch am Vereinsleben nahmen sie teil. Sie gehörten zu den Mitbegründern des Gesang- und des Verkehrsvereins, einige nahmen Funktionen im Vorstand wahr. Cäcilie Katzenstein war um die Jahrhundertwende Mitbegründerin eines wohltätigen Frauenvereins. Die Katzensteins und insbesondere die Mildenbergs gehörten zu den tragenden Säulen des Gesangvereins. Max Mildenberg war außerdem sehr aktiver Sportler: Er gehörte zur Faustball- wie auch zur ersten Vöhler Fußballmannschaft und war außerdem ein guter Leichtathlet. Mitte der dreißiger Jahre war es damit vorbei: Noch bevor die Vereine im Rahmen der Gleichschaltung aufgelöst wurden, entledigten sie sich ihrer jüdischen Mitglieder, zum Teil auf sehr unschöne Weise.

Opfer des Völkermords

Im Jahr 1933 lebten noch 45 Juden in Vöhl und Marienhagen. Nach und nach zogen sie weg: nach Kassel und Frankfurt, ins Ruhrgebiet, aber auch bereits ins Ausland. Im August 1938 lebten noch 13 Juden in Vöhl: 3 Männer, 9 Frauen und ein 6jähriger Junge. Einige von ihnen zogen auch jetzt noch nach Frankfurt, andere wurden im Dezember 1941, im Juni und im September 1942 nach Riga, Sobibor und Majdanek sowie nach Theresienstadt deportiert. 45 Frauen, Kinder und Männer, die viele Jahre in Vöhl und seinen Nachbarorten gewohnt hatten, wurden in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern umgebracht. Bei den alljährlich am 9. November stattfindenden Gedenkfeiern werden die Namen von über 70 Personen verlesen, weil auch an die Ehepartner und Kinder Vöhler Juden erinnert werden soll.

Der Förderkreis

Am 9. November 1999 gründeten über 70 Vöhler und Bürger von Nachbargemeinden den Förderkreis „Synagoge in Vöhl e.V.“, der das alte Gebäude erwarb und zu renovieren begann.

Von Anfang an und zu jeder Bauphase fanden dort Veranstaltungen statt: Konzerte, Kleinkunstveranstaltungen, Vorträge, Kunstausstellungen und vieles mehr. Der Förderkreis erarbeitet alljährlich ein umfangreiches und vielseitiges Programm. Neben dem kulturellen Angebot und der denkmalschützerischen Arbeit ist dies die dritte Säule des Förderkreises: Die Erforschung der Geschichte der Juden in Vöhl und in der Region.

Besuche ehemaliger jüdischer Bewohner/innen

Auch deshalb war es dem Förderkreis wichtig, so bald wie irgend möglich die ehemaligen Vöhler Juden, so weit sie noch lebten, in ihren Heimatort einzuladen. Fünfzehn von ihnen kamen im September 2000, erzählten von den Jahren ihrer Kindheit und Jugend in Vöhl, von dem Leid, das sie und ihre Familien erlebt hatten. Vor der Thorawand der Synagoge versammelten sie sich zu einem Gruppenfoto.

 

Museum in der Synagoge

Der Sakralraum ist inzwischen fertiggestellt. In den früheren Wohnräumen des Lehrers wird durch Bilder, Dokumente, Sakralgegenstände, Präsentationen usw. an jene Zeit erinnert, als auch Juden das Bild unserer Dörfer und Städte prägten und zu ihrer Entwicklung beitrugen.

Mahnmal für alle Deportierten der NS-Zeit

Ein Mahnmal im Hof der Synagoge – geschaffen von der Frankfurter Künstlerin E.R. Nele -erinnert eindrucksvoll an alle Deportierten der Nazizeit. Es ist den vielen hundert Menschen – darunter mehr als 700 Juden aus Waldeck-Frankenberg – gewidmet, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 entweder bereits in der Heimat gefoltert und getötet oder aber in die Vernichtungslager im Osten deportiert und vergast, erschossen oder auf andere Weise umgebracht wurden: Kommunisten und Sozialdemokraten, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Kriegsgefangene (insbesondere aus dem Osten) und eben auch den vielen Jüdinnen und Juden.

 

 

 

 

 

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