Bei seinen Forschungsarbeiten über den Nationalsozialismus beschäftigte sich der Berliner Historiker Prof. Michael Wildt auch mit dem Angriffskrieg der Deutschen auf Polen und die damalige Sowjetunion und mit den deutschen Vernichtungslagern in Osteuropa. Er setzte sich dabei auch mit der Geschichte der besetzten Länder auseinander. Bei seinem Besuch in Vöhl sprach er mit unserer Zeitung über den am 24. Februar entfesselten Ukraine-Krieg – der seine historischen Dimensionen hat und tief in die ukrainische Geschichte führt.
Der russische Präsident Wladimir Putin spricht der Ukraine offenbar das Existenzrecht ab und betrachtet sie als historisch zu Russland gehörig. Die Ukrainer beharren auf der Eigenständigkeit ihrer Nation, ihrer Kultur und ihres Volkes. Wie beurteilt der Historiker den Gegensatz?
Die ukrainische Auffassung des Nationalstaates ist völlig zeitgemäß. Putins Machtanspruch stammt aus dem Mittelalter. Er sucht eine historische Legitimität aus imperialen Traditionen der Zarenzeit, die es nicht mehr gibt. Auch ich habe zu spät wahrgenommen, was Putin in seinen Reden gesagt hat, aber wir müssen ihn ernst nehmen: Putin fühlt sich auf einer historischen Mission.
Kanzler Olaf Scholz bezeichnet den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins als „Zeitenwende“. Lässt sich der Krieg bereits historisch einordnen?
Für Europa stellt der Krieg einen Bruch mit der europäischen Friedensordnung und mit dem 1975 von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa geschlossenen Vertrag von Helsinki dar. Da hat die russische Führung eine Zäsur gesetzt, die tief geht. Es braucht eine sehr lange Zeit, bis wieder Vertrauen entstehen kann und eine Zusammenarbeit mit Russland möglich ist. Außerhalb Europas zeigen sich aber schon länger die imperialen Ansprüche Russlands, ob in Afghanistan, in Syrien oder 2014 auf der Krim. Der deutschen Politik ist erst sehr spät gewahr geworden, welche Pläne die russische Regierung hat.
Allerdings ist die nach 1945 geschaffene Friedensordnung der Welt schon gefährdet.
In der Welt bedroht der Angriffskrieg Russlands in hohem Maße die Strukturen der Vereinten Nationen, nach denen die Großmächte für Sicherheit und Ausgleich sorgen sollen – Russland ist ja im UNO-Sicherheitsrat Vetomacht. Hier muss über die Strukturen der UNO nachgedacht werden.
Für das heutige Nationalbewusstsein der Ukrainer ist offenbar die Zeit zwischen der russischen Oktoberrevolution 1917 und dem Sieg der Roten Armee über Nazi-Deutschland 1945 prägend. Wie war die Situation in der heutigen Ukraine zum Ende des Ersten Weltkriegs?
In osteuropäischen Ländern wie in Polen und der Ukraine ist schon im 19. Jahrhundert ein auf die Kultur ausgerichtetes Nationalbewusstsein aufgekommen. Mit dem Zerfall des russischen Imperiums nach 1917 sind die Nationen dann auch als Nationalstaaten entstanden. Auf dem Gebiet der heutigen Ukraine haben aber etliche Kräfte in einem verheerenden Bürgerkrieg über die Vorherrschaft gekämpft.
Der Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg beendete 1920 die Unabhängigkeit der Ukraine, das Baltikum wurde durch den Hitler-Stalin-Pakt 1939 sowjetisch, Polen wurde geteilt. Wie hat sich die Situation für die Ukrainer nach dem Beginn des deutschen Angriffs- und Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion im Juni 1941 geändert?
Im Baltikum und in der Ukraine gab es Nationalbewegungen unterschiedlicher Schattierungen. Sie haben gehofft, durch ein Bündnis mit den Deutschen gegen die sowjetische Herrschaft ihre Nationalstaatlichkeit wiederzugewinnen. Auf deutscher Seite war aber von Anfang an klar, dass keine Nationalstaaten entstehen sollten. Es ging vielmehr darum, Länder wie die Ukraine auszuplündern. Die Wehrmacht sollte sich aus dem Land ernähren. Es war der deutschen Führung völlig klar, dass die Agrarressourcen nicht ausreichten, es war ihr klar, dass Millionen Menschen deshalb verhungern würden.
Ein wichtiger, aber umstrittener Mann dieser Zeit ist der ukrainische Partisanenführer Stepan Bandera: Für die einen ist er bis heute ein Freiheitskämpfer, für andere ein fanatischer Nationalist, Nazi-Kollaborateur und Antisemit. Wie schätzen Sie ihn ein?
Bandera ist zweifellos ein gewalttätiger Antisemit und ein militanter ukrainischer Nationalist. Für ihn war der Kommunismus ein Werk der Juden. Er hat die Pogrome an der jüdischen Minderheit in der Ukraine gewollt und angefeuert. Das macht die Ambivalenzen der Erinnerung heute in Osteuropa aus. Auf der einen Seite wird an den Kampf gegen den Kommunismus erinnert, auf der anderen Seite die mörderische antisemitische Seite nicht gesehen oder sogar geleugnet. Das ist ein schwieriger Umgang dieser Länder mit der eigenen Geschichte.
Durch allzu späte Gerichtsprozesse gegen Aufseher in deutschen Vernichtungslagern wie 2011 gegen John Demjanjuk gerieten die „Trawniki-Männer“ in den Blick: Rädchen in der Tötungsmaschinerie der SS. Wer waren sie?
Die Trawniki waren eine Hilfstruppe, die die SS für die Vernichtungslager im Osten aus den Kriegsgefangenen der Roten Armee rekrutiert hat, vor allem unter ukrainischen Soldaten.
Was hat die Gefangenen bewogen, für „den Feind“ zu arbeiten? Und dann noch in den Vernichtungslagern der SS?
Die deutsche Führung hat sich keine großen Gedanken um die Kriegsgefangenen gemacht, sie hat geglaubt, der Krieg sei in drei Monaten gewonnen. Doch der Krieg dauerte länger, und die Wehrmachtsführung traf die kriegsverbrecherische Entscheidung, sich nicht um die Versorgung der Kriegsgefangenen zu kümmern – bis Februar 1942 waren über mehr als Millionen sowjetische Gefangene verhungert oder an Erschöpfung und Krankheiten gestorben. In dieser Situation erschien es vielen als ein Ausweg vor dem sicheren Tod, sich von der SS rekrutieren zu lassen.
Wie stark sind die Trawniki an Verbrechen beteiligt?
Die meisten haben mitgemacht beim Massenmord in den Vernichtungsstätten Belzec, Sobibor, Treblinka. Sie hatten nichts gegen den Massenmord – oft auch aus antisemitischer Gesinnung. Deshalb ist John Demjanjuk aus meiner Sicht zu Recht wegen Beihilfe zum Mord an 28 060 Menschen verurteilt worden. Es gab aber auch Trawniki, die geflohen sind oder versucht haben, sich mit Waffengewalt gegen die SS-Leute zu stellen. Doch die meisten waren willige Helfer.
Mit dem Sieg 1945 stieg die Sowjetunion zur „Supermacht“ neben den USA auf. Für Putin ist ihr Zerfall 1991 die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. War die gerade vom neu gewählten russischen Präsidenten Boris Jelzin betriebene Auflösung zwangsläufig?
Der Zerfall der Sowjetunion war unvermeidbar. Das Imperium konnte so, wie es organisiert war, nicht weiter existieren. Selbst ein Staatenbund wie die 1991 gegründete „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ war schon nicht mehr möglich. Die neuen Nationalstaaten wollten ihre eigenen Wege gehen.
Bei der Debatte im Westen über den Umgang mit Putins Angriffskrieg ziehen manche Parallelen zur Lage Ende der 1930er Jahre, als Hitler immer aggressiver nach Gebietserweiterungen verlangte – bis er mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg auslöste. Heute heißt es, Verhandlungen mit Putin seien wie die 1939 gescheiterte „Appeasement-Politik“ der Briten und Franzosen, Putin müsse „besiegt“ werden. Lässt sich die Situation vergleichen?
Die Frage stellt sich allgemeiner: Kann man aus der Geschichte lernen? Die Antwort lautet: ja und nein. Wir können nicht aus Hitlers Politik darauf schließen, wie Putin agiert. Eine solche Analogie führt in eine Sackgasse. Und auch ohne historische Parallelen zum Nationalsozialismus ist evident, dass Putin für Kriegsverbrechen verantwortlich ist.
Warum dann der Drang zu historischen Parallelen?
Wir erleben gerade eine unvorhersehbare Situation, in der Menschen versuchen, sich in der Geschichte zu vergewissern, in der sie versuchen, Markierungen zu finden, um Urteile zu finden. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Es gibt durchaus Anknüpfungspunkte, auch Hitler hat die anderen Mächte getäuscht, die mit Deutschland das Münchner Abkommen geschlossen haben. Aber trotzdem sind die Ausgangslagen 1938 und heute völlig anders. Wir sind in einer neuen Situation, auch die Kräfteverhältnisse sind unterschiedlich. 1938 wollten Briten und Franzosen einen neuen Krieg verhindern. In der Gegenwart hat die westliche und besonders die deutsche Politik lange geglaubt, durch Handel und gegenseitigen Nutzen Kriege überflüssig zu machen, und dahinter nicht die imperialen Pläne Russlands wahrnehmen wollen.
Der Krieg und die hektische Suche nach Energiesicherheit verdrängen wichtige andere Themen.
Der Krieg tritt in den Moment in die Weltpolitik, in dem viel Drängenderes im Mittelpunkt stehen müsste: der Klimawandel. Um ihn einzudämmen, wäre eine weltweite Zusammenarbeit zwingend nötig. Der Krieg jetzt macht diese gemeinsamen globalen Anstrengungen zunichte und ist daher eine weltweite Katastrophe. Putin ist für mich insofern nicht nur ein Kriegsverbrecher, sondern ein Menschheitsverbrecher.
Was wäre in der jetzigen Lage zu tun?
Ziel der gemeinsamen Anstrengungen muss es sein, die Souveränität der Ukraine zu erhalten. Russland darf mit seinem Angriffskrieg nicht durchkommen. Dann hat die Ukraine das Wort, um zu sagen, wie eine politische Lösung aussehen kann.
Wie könnte der russische Angriffskrieg zu einem Ende gebracht werden?
Der Krieg endet erst dann, wenn die volle Souveränität der Ukraine wiederhergestellt ist. Sie wird sich mit der Annexion ihrer Gebiete nie zufriedengeben. Aber eine politische Lösung ist mit der derzeitigen russischen Führung wohl nicht möglich. Es braucht einen grundlegenden politischen Wechsel, nur dann wird es eine Lösung geben, die dem Völkerrecht und der europäischen Friedensordnung entspricht. -sg- Fotos: Archiv / Andreas Gebert